Fluegelschlag
anderen, mächtigeren Geschöpfes zu stehen. Ihre Welt bestand aus einem komplizierten Geflecht von Beziehungen, Gefälligkeiten und Abhängigkeiten. Das Fehlen von Emotionen aber machte Engel in ihren Augen zu sehr viel gefährlicheren Gegnern, als der schlimmste Dämon es je sein konnte - eine Karte, die auszuspielen Arian mit einer Perfektion verstand und die ihn in der Tat zu einem nicht zu unterschätzenden Feind machte. »Die Stadt ist unruhig.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Die üblichen Schwierigkeiten unter Menschen.« Cathure klang gleichgültig.
»Tatsächlich?«
»Glasgow ist nicht New York oder São Paulo. Ja, ein paar Messerstechereien gibt es schon. Aber die Gangs bleiben meist unter sich …«
Arian ahnte das Zögern mehr, als dass er es hörte. »Aber jetzt greift es um sich, habe ich Recht?«
»Was willst du?«
»Ich will eine Auflistung aller ungewöhnlichen Ereignisse der letzten Wochen: Gewalt, Mord und vor allem magische Aktivitäten.«
»Warum fragst du nicht deine eigenen Leute?«
Nun musste Arian auf der Hut sein. Der andere durfte nicht einmal ahnen, dass seine Leute neuerdings womöglich einige Etagen tiefer lebten, als man es von Engeln erwarten würde. »Fakten reichen mir nicht, ich will jede Information haben.«
»Also gut.« Er sah Arian scharf an. Dann öffnete er die Türen zu einem kleinen Balkon. »Morgen.«
Arian nickte ihm zu, trat hinaus und verschmolz mit dem Abendlicht.
Die Flügeltüren schlossen sich hinter ihm, und Cathure blickte nachdenklich durch die Scheiben hinaus. Der Himmel stand in Flammen, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass dieses faszinierende Schauspiel gute Zeiten ankündigte. Arians Besuch hatte ihn mehr beunruhigt, als er sogar vor sich selbst zugeben mochte. Und irgendetwas an dem Wächter war ihm merkwürdig vorgekommen. Er legte einen Finger auf die Lippen. Es war richtig zu kooperieren. Und mit ein wenig Glück käme er hinter das Geheimnis des Engels, in dessen Schuld er dann nicht mehr stünde. Der Geist eines wahrhaftigen Lächelns huschte über sein Gesicht.
Draußen in den Straßen flammten die letzten Laternen auf, und die Farbe der Stadt verließ diese Welt, bis der nächste Morgen sie erneut zum Leben erwecken würde. Er drehte der abendlichen Demonstration himmlischer Pracht den Rücken zu und verließ das Büro.
Erst nachdem sein Gastgeber den Raum verlassen hatte, erhob sich Arian tatsächlich in die Nacht. Mit kräftigen Flügelschlägen wandte er sich gen Osten, um zu Junas Haus zurückzukehren. Je länger er sich in dieser Stadt bewegte, desto überzeugter war er davon, dass sich ein großes Übel in den beleuchteten Straßen unter ihm ausbreitete.
4
A rian trat durch die offene Hintertür in die Wohnküche und erstarrte. »Was ist das?« Mit zwei langen Schritten hatte er den Raum durchquert. Den gepressten Tonfall konnte Juna nicht überhören.
Sie folgte ihm neugierig, während sie sich die vom Spülen noch feuchten Hände an der Jeans abwischte. Arian hielt etwas in den Händen und sah sie vorwurfsvoll an. Bei genauem Hinsehen erkannte sie, dass es sich um eine längliche Schachtel handelte, die mit orientalisch anmutenden Ornamenten verziert war. Auf der Vorderseite befand sich ein Riegel. »Was ist denn passiert?« Sie zeigte auf die Schachtel. »Sieht irgendwie wertvoll aus, woher …?«
Arian unterbrach sie scharf. »Das frage ich dich. Sie stand dort auf der Anrichte!« Sofort bemühte er sich um einen ruhigeren Ton. »Juna, hast du diese Schatulle angefasst?«
»Nein. Glaub mir, ich sehe sie zum ersten Mal!« Sie streckte die Hand aus.
Arian machte einen Schritt zurück.
»Bist du okay?« Nun klang sie besorgt.
Er sah ein, dass er so nicht weiterkommen würde. »Entschuldige, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich nehme an, dieses Kästchen hat eine Erinnerung ausgelöst.« Er wich ihrem erwartungsvollen Blick aus. Arian konnte in einer solchen Situation einfach nicht lügen, und allmählich
begann er diesen Umstand ehrlich zu bedauern. Dabei wäre jeder andere Engel wahrscheinlich stolz auf seine Ehrlichkeit gewesen, hätte ihm ein solches Gefühl zur Verfügung gestanden. In diesem Augenblick wünschte er sich nichts sehnlicher als ein Wunder, das dafür sorgte, sie den Zwischenfall vergessen zu lassen.
Das Telefon klingelte.
Juna zögerte kurz, eilte dann aber hinaus. Arian dagegen wartete keine Sekunde. Er ließ die Schatulle hinter seinem Rücken verschwinden und
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