Flüsterherz
wir schaffen das schon. Wir haben Freunde, die uns helfen, im Garten wächst Salat, und die Bohnen sind auch schon so weit, hast du’s gesehen?
We’re alive, that’s what counts.«
Er grinste aufmunternd. »Also: Was soll ich für dich spielen?
Your song?«
Er stimmte ein Lied von MaiZZ an. Tibbys Lieblingslied.
Kaum hatte er die ersten Akkorde angeschlagen, entspannte sich die Situation. Tibby lehnte sich zurück. Das Thema Geld war vorläufig abgehakt. Trotzdem fiel mir die Situation im Laden ihrer Mutter wieder ein, als Tibby Geld zum Einkaufen gebraucht hatte. Und ich spürte, dass die Musik und die lockere, zwanglose Stimmung etwas übertünchten, etwas Unschönes, das ich nicht so recht verstand und das mir Angst machte.
5
Wenn Jeff Gitarre spielte, sah ich die Welt mit anderen Augen. Mit einem Mal war die Küche von einer behaglichen Atmosphäre erfüllt, seine Musik spendete Trost und ließ mich träumen. Das wollte ich mit meiner Geige auch erreichen. Saubere Doppelgriffe waren egal, auf das Gefühl kam es an.
Ich probierte es aus. Erst mit Stücken, die ich bei Viola und im Orchester spielte, von Mozart und Mendelssohn, aber es tat sich nichts. Weder geriet ich ins Träumen, noch gelang esmir, eine entspannte Stimmung zu erzeugen. Wie machte Jeff das nur? Er spielte immer auswendig, ohne Noten, und schlug dabei nicht einen einzigen falschen Akkord an.
Ich legte die Noten weg und probierte es erneut, verspielte mich aber ständig.
Es klang nach nichts.
Vielleicht lag es daran, dass meine Geige dauernd im Kasten war, eingesperrt wie ein Vampir. Jeffs Instrument hing offen an der Wand. Ob ich der Geige Traummelodien entlocken konnte, wenn sie hin und wieder die Sonne sah?
Im Keller fand ich eine alte Tube ultramarinblaue Acrylfarbe von Ma. Damit malte ich ein großes blaues Quadrat an meine leere weiße Wand. Es wurde ein wenig fleckig, doch das wirkte umso künstlerischer.
Die Farbe trocknete schnell. Ich knotete ein rot-weiß-blaues Band an die Geige und hängte sie an einen Nagel. Es sah hinreißend Tibby-mäßig aus, und das in meinem Zimmer!
Vielleicht lernte ich ja auch noch, ohne Noten zu spielen, wie Jeff. Und so gefühlvoll.
Ich war stolz und zeigte Ma die Wand.
»Weißt du eigentlich, was das Instrument gekostet hat, Anna? Tausendfünfhundert Euro! Und der Bogen ist aus echtem Pernambucoholz. So was hängt man doch nicht an die Wand! Damit muss man sorgsam umgehen.«
Das war mal wieder typisch Ma!
»Aber was soll denn passieren?«
»Egal. Das kannst du mit der empfindlichen Geige nicht machen, Anna. Nimm sie runter.«
»Nein!«
Ma wurde stinkwütend. »Wenn du nicht anständig damit umgehst, brauchst du auch kein so wertvolles Instrument. Dann spielst du eben künftig auf einer Geige aus Sperrholz.«
Also schloss ich sie wieder in ihren Kasten ein.
Ma hatte natürlich vollkommen recht. Die wertvolle Geige war an der Wand großen Gefahren ausgesetzt. Bei den vielen Erdbeben hier. Den unzähligen Katzen, die wild durchs Haus tobten, und den Massen Kleinkindern, die überall herumturnten und sie dabei beschädigen konnten
.
Wenn ich so darüber nachdenke, wird mir klar, wie verkrampft und ängstlich Ma reagierte. Und ich verstehe immer besser, warum ich mich bei Tibby so wohlfühlte. Die behagliche Atmosphäre, Jeffs Musik und dieses ganz und gar andere Lebensgefühl – all das faszinierte mich
.
Ich nehme die Geige aus dem Kasten. Vielleicht kann ich, statt zu schreiben, etwas spielen
.
Es klappt tatsächlich: Ich spiele ein ganzes Stück ohne Noten, rein nach Gefühl. Und heule dabei Rotz und Wasser
.
Ich heule wegen allem, was passiert ist. Und wegen meiner tiefen Schuldgefühle. Tibby hatte es mit ihren Eltern so schwer, ständig war das Geld knapp, und sie wusste nicht mehr ein noch aus. Und ich habe einfach zugesehen und nichts unternommen
.
Ich möchte weiterspielen, bis die Tränen alle sind, aber es sind zu viele. Sie ballen sich in meiner Kehle zu einem großen Trauerkloß zusammen
.
Meine Geige lege ich nicht mehr in den Kasten zurück, sondern hänge sie wieder an die Wand. Ma wird toben, aber das ist ihr Problem. Soll sie mir doch mit einer Geige aus Sperrholz drohen, ich lege meine nicht mehr in den Kasten. Sie hat ein Recht auf Sonne und Freiheit
.
Lathyrus und Geißblatt
Wir saßen mit dem letzten Eis des Schuljahres auf dem Pausenhof und feierten, dass wir alle versetzt worden waren. Tibby mit Ach und Krach, aber immerhin.
»Was macht ihr in den
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