Flüsterherz
dieser Zeit. In seinem Mundwinkel hing eine Zigarre, aus der er dünne Rauchschwaden paffte. Seine Hände waren ölverschmiert.
Fachmännisch nahm er Tibbys Rad in Augenschein. »Tscha, Mädel, da ist wohl ’n neuer Reifen fällig. Ihr dürft nich so auf euren Rädern rumheizen, das halten die nich aus.«
»Können Sie ihn noch mal flicken?«, fragte Tibby.
Er richtete sich auf und nahm die Zigarre aus dem Mund. »Der Reifen ist hinüber. Hier, da und da auch, guck’s dir an!« Er benutzte die Zigarre als Zeigestock und schob sie dann wieder zwischen die Lippen. »Ich könnt den schon flicken, aber dann isser morgen wieder platt.«
»Aber er lässt sich noch mal flicken?«
Van der Linden nahm die Zigarre in die Hand und baute sich vor Tibby auf. »Hör mal, Mädel, den Reifen kann ich noch fuffzich Mal flicken. Aber ich mach das nich, weil das wär Pfusch. Wenn du ’nen neuen Reifen brauchst, dann kriegste auch einen. Mal sehn, heut ist Mittwoch. Montag kannste dein Rad abholen. Fünfunddreißig Euro.«
Wieder steckte er die Zigarre in den Mund und zog genüsslich daran. Er trat an seinen verstaubten Ladentisch, nahm einen Bleistiftstummel und ein hellrosa Formular zur Hand und wollte notieren, was an Tibbys Rad zu machen war.
»Ich brauch das Rad morgen schon«, sagte sie.
»Wie? Eilig haben wir’s auch noch? Na denn, wenn’s sein muss …«
»Die Rechnung geht an meine Mutter«, sagte Tibby. »Sie hat einen Laden hier in der Nähe:
Pretty Pearls & More
.«
Van der Linden manövrierte die Zigarre bedächtig in den anderen Mundwinkel, dann schüttelte er den Kopf. »Nee, so läuft das nich«, sagte er. »Bei mir gibt’s keinen Kredit. Ich mach dir den Reifen im Schweinsgalopp drauf, und du gehst zu Muttern innen Laden, holst Geld und zahlst morgen. Bar auf die Kralle. Abgemacht?«
»Reine Schikane, nur weil ich Ausländerin bin«, zischelte Tibby mir zu und sagte dann etwas lauter: »Ich kann ja auch woandershin gehen.«
Der Fahrradhändler seufzte. »Weißte, Mädel, ich muss auch zusehn, dass ich über die Runden komm. Die Mieten steigen, dann sind wieder Steuern fällig … Vater Staat bringt mich noch an ’n Bettelstab.« Mit langsamen, ausladenden Gesten unterstrich er seine Worte. »Beim Auto meckert keiner. Achtzig Euro für Benzin, dreihundert für die Werkstatt, das kratzt niemanden. Aber wenn se dann dreißig Euro für ’ne Reparatur am Rad berappen solln, schlagen se die Hände überm Kopf zusammen! So, ich muss jetzt weitermachen. Soll ich das Rad nu richten oder nich?«
»Wir gehen ja schon«, sagte Tibby patzig und steuerte mit energischen Schritten auf die Tür zu. »Dämlicher alter Spießer!«, murmelte sie vor sich hin.
»Wo ist das Problem?«, fragte ich. »Wir können doch schnell bei deiner Mutter vorbeigehen.«
»Wenigstens hab ich jetzt wieder Licht am Rad«, sagte Tibby. Sie hielt mir zwei Glühlampen hin, nagelneu und originalverpackt. Die hatte sie im Laden mitgehen lassen.
»Sag mal, spinnst du?«, rief ich. »Du kannst doch den netten alten Mann nicht beklauen! Und warum lässt du dein Rad nicht von ihm reparieren? So teuer ist es doch auch wieder nicht.«
Sie sah mich an, als redete ich kompletten Blödsinn und hätte von nichts eine Ahnung.
4
Als die Schule wieder anfing, fand ich das nicht weiter schlimm. Ich freute mich, Jeske, Lianne und Eileen endlich wiederzusehen. Und ich brachte sogar die Geduld auf, Tarik zuzuhören, der wie immer einen Witz nach dem anderen erzählte, dabei Lakritzbonbons und Mentos aus seinem unerschöpflichen Vorrat verteilte und zwischendurch die neuesten Songs auf seinem MP3-Player mitsummte. »Ey, Anna, das
musst
du dir anhören!«
Die neunte Klasse war nicht anders als die achte, außer dass ich jetzt meist neben Tibby saß. Ich ließ sie mit in meine Bücher schauen, weil ihre noch nicht da waren.
Nach anderthalb Wochen meckerten die Lehrer sie an und Tibby wiederum meckerte mich an.
»Dieser blöde Fred geht mir auf den Zeiger«, sagte sie. »Ständig nölt er mich voll. Wie soll ich mich denn ohne Bücher vorbereiten?«
»Hast du mal nachgefragt, wo sie bleiben?«
»Die kommen schon noch. Ich hab keine Lust, mir deswegen die Laune verderben zu lassen.«
Das verstand ich gut. Für schlechte Laune war das Wetter viel zu schön.
Wir standen auf dem Schulhof, es war sommerlich warm, und sogar der Eismann war wieder da. Neben seinem Wagen lehnte der Neue aus der Zwölf am Zaun.
Groß, blond, hübsches Gesicht und total
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