Flüstern in der Nacht
Seine Kleider und die umfangreiche Sammlung an Gemälden, Metallskulpturen und Büchern, die er selbst zusammengetragen hatte, nahm er mit; aber alles, was Katherine gehörte, ließ er zurück. Ihre Kleider blieben in den Schränken hängen, ihr antikes Mobiliar, die Gemälde, die Porzellansammlungen, Spieldosen an ihren Plätzen stehen – all die Dinge (und vieles mehr) hätten um beträchtliches Geld versteigert werden können. Aber Bruno bestand darauf, daß jeder Gegenstand dort liegenblieb, wo Katherine ihn hingelegt hatte, unberührt und von niemandem verrückt. Er verriegelte die Fenster, zog die Gardinen und Vorhänge vor, verschloß die Läden im Erdgeschoß und dem ersten Stockwerk, verriegelte die Türen und versiegelte das Ganze wie ein Grabmal, als könne er damit die Erinnerung an seine Adoptivmutter für alle Zeit bewahren. Bruno mietete sich eine Wohnung und fing an, Pläne für den Bau eines neuen Hauses zu schmieden. Joshua wollte ihn überzeugen, das Haus auf der Klippe mit seinen vielen Werten nicht unbewacht zu lassen. Aber Bruno bestand darauf; das Haus sei sicher und würde schon allein aufgrund seiner Abgelegenheit Einbrecher nicht reizen – insbesondere deshalb, da es im Tal praktisch noch nie Einbrecher gegeben hätte. Die beiden Zugänge zum Haus – die Treppe und die Seilbahn – lagen auf dem Fryeschen Anwesen hinter der Kelterei; und die Seilbahn ließ sich nur mit einem Schlüssel in Gang setzen. Außerdem (so argumentierte Bruno damals) wüßte außer ihm und Joshua niemand, daß sich in dem alten Haus eine große Zahl von Wertgegenständen befänden. Bruno ließ sich von seinem Entschluß nicht abbringen; niemand durfte Katherines Besitztümer berühren – und schließlich hatte Joshua zwar widerstrebend und unzufrieden den Wünschen seines Klienten nachgegeben.
Nach Joshuas bestem Wissen hatte seit fünf Jahren niemand mehr das Haus auf der Klippe betreten, seit jenem Tag, an dem Bruno ausgezogen war. Die Seilbahn war gut in Schuß, obwohl der einzige Mensch, der sie benutzte, Gilbert Ulman war, der Mechaniker, der auf dem Weingut die Einsatzbereitschaft aller Fahrzeuge und Maschinen prüfte; so mußte Gil auch regelmäßig die Seilbahn inspizieren und reparieren, was freilich nur ein paar Stunden pro Monat in Anspruch nahm. Morgen oder spätestens am Freitag würde Joshua mit der Seilbahn auf die Klippe fahren und das Haus öffnen, jede Tür und jedes Fenster, und es lüften, bevor am Samstagmorgen die Kunstsachverständigen aus Los Angeles und San Franzisko kämen.
Im Augenblick dachte Joshua aber nicht im mindesten an Leo Fryes isolierte viktorianische Bastion; seine Geschäfte führten ihn in Brunos modernes, wesentlich leichter zugängliches Haus. Am Ende der Zufahrt zum öffentlichen Parkplatz des Weinguts bog er nach links in einen schmalen Weg ein, der in südlicher Richtung durch die von der Sonne verwöhnten Weingärten führte. Zu beiden Seiten der aufgesprungenen Asphaltdecke wucherten Trauben. Der Weg führte ihn einen Hügel hinunter über eine Wiese, dann wieder einen Hügel hinauf, bis er schließlich zweihundert Meter südlich der Kelterei an einer Lichtung endete, auf der Brunos Haus stand, ringsum von Weingärten umgeben. Das große, einstöckige Gebäude aus Redwood und Naturstein stand im Schatten einer jener neun mammutartigen Eichen auf Fryeschem Grund, die der Firma ihren Namen gaben.
Joshua stieg aus und ging zur Eingangstür des Hauses. Am strahlendblauen Himmel zogen nur ein paar hochstehende weiße Wölkchen herum. Die leichte Brise von den baumbestandenen Höhen der Mayacamas-Berge wehte frisch und angenehm.
Er sperrte die Tür auf, trat ein und blieb einen Augenblick lang lauschend im Vorraum stehen. Was er erwartete, wußte er nicht.
Vielleicht Schritte. Oder Bruno Fryes Stimme. Aber da herrschte nur Stille. Er mußte von einem Ende des Hauses zum anderen gehen, um Fryes Arbeitszimmer zu erreichen. Die Einrichtung bildete den lebendigen Beweis dafür, daß Bruno sich Katherines zwanghafte Sammlerleidenschaft angeeignet hatte. An einigen Wänden hingen so viele Gemälde so dicht nebeneinander, daß ihre Rahmen sich berührten und daß das Auge in diesem Durcheinander aus Form und Farbe keinen Ruhepunkt finden konnte. Überall standen Vitrinen herum, angefüllt mit Kunstwerken aus Glas und Bronze, mit Brief-beschwerern aus Kristall und präkolumbianischen Statuetten. Jeder Raum quoll über vor Möbeln, aber jedes Stück schien ein exquisites
Weitere Kostenlose Bücher