Flüstern in der Nacht
Felsgestein, Redwood und Eichenholz, die förmlich aus dem Boden hervorzuwachsen schienen – lagen auf einem breiten Streifen flachen Landes am westlichen Rand des Anwesens. Die Gebäude waren so angeordnet, daß sie nach Osten über das Tal hinausblickten, auf die Weinberge, und sich mit dem Rücken einer fünfzig Meter hohen Klippe zuwandten, einer Klippe aus grauer Vorzeit, geformt durch eine Erdbewegung, die die Mayacamas-Berge in die Höhe geschoben hatte.
Über der Klippe, auf einem isoliert aufragenden Hügel, lag das Haus, das Leo Frye, Katherines Vater, 1918 bei seiner Ankunft erbaut hatte. Leo, ein verschlossener Typ, hatte mehr als alles andere Wert auf Abgeschiedenheit gelegt. Der Bauplatz bot ihm damals sowohl den ungehinderten Blick auf das schöne Tal als auch die völlige Abgeschlossenheit, also der ideale Platz über der Hügelgruppe. Leo, damals, 1918, schon Witwer und Vater lediglich eines kleinen Kindes, errichtete auf der Hügelkuppe ein geräumiges Zwölf-Zimmer-Haus im viktorianischen Stil, ein Haus mit vielen Erkern und Giebeln und einer ganzen Menge architektonischem Zierat, obwohl er eine nochmalige Ehe nicht ins Auge gefaßt hatte. Das Haus überblickte das Weingut, das er später auf dem Hochland darunter aufgebaut hatte, und besaß nur zwei Zugänge, zum einen eine Seilbahn, ein System aus Kabeln, Flaschenzügen, Elektromotoren und einer viersitzigen Gondel, die von der Talstation (einer Ecke der Hauptkelterei) zur Bergstation (irgendwo im Norden des Hauses auf der Klippe) hochführte. Zum zweiten gab es eine im Zickzack verlaufende, an der Klippenwand befestigte Treppe. Ihre dreihundertzwanzig Stufen sollten nur dann benutzt werden, wenn die Seilbahn nicht funktionierte – und man die Reparaturarbeiten nicht abwarten konnte. Auf seinem Weg von der öffentlichen Straße über eine lange Privatstraße in Richtung Kelterei, versuchte Joshua, sich an alles zu erinnern, was er über Leo Frye wußte. Viel war das nicht. Katherine hatte nur selten über ihren Vater gesprochen, und Leo besaß nicht gerade viele Freunde.
Joshua selbst kam erst 1945, einige Jahre nach Leos Tod, in dieses Tal. Er hatte den Mann also nie persönlich kennengelernt, aber genug über ihn gehört, um sich ein Bild von ihm zu machen, von jenem Menschen, der sich nach solch außergewöhnlicher Abgeschiedenheit auf der Klippe gesehnt hatte. Leo Frye war kalt, streng, nüchtern, introvertiert, hartnäckig, hochintelligent, Egoist und ein Mann von eiserner Autorität gewesen. Irgendwie erinnerte er an einen Feudalherrn aus ferner Zeit, einen mittelalterlichen Aristokraten, der gerne in einem gut befestigten Schloß weitab vom ungewaschenen Bauernpack lebte.
Katherine hatte nach dem Tod ihres Vaters das Haus weiter bewohnt. Sie zog Bruno in jenen hohen Räumen auf, einer Welt fernab von jeglichen Altersgenossen des Kindes, einer Viktorianischen Welt aus hüfthohen Wandvertäfelungen, geblümten Tapeten, geschwungenen Stuckverzierungen, Kaminsimsen und Spitzentischtüchern. Tatsächlich hatten Mutter und Sohn abgeschieden bis zu Brunos fünfunddreißigstem Lebensjahr zusammengelebt, dem Jahr, in dem Katherine schließlich an einer Herzkrankheit verstarb. Die lange Asphaltstraße zur Kelterei entlangfahrend, erhob Joshua seinen Blick über die Gutsgebäude hinweg hinüber zu dem mächtigen Haus, das wie ein gewaltiger Grabstein auf der Klippe stand.
Seltsam, daß ein erwachsener Mann so lange mit seiner Mutter zusammenlebte, wie Bruno mit Katherine. Natürlich hatte es Gerüchte und Mutmaßungen gegeben. In St. Helena vertrat man allgemein die Ansicht, Bruno interessiere sich wenig oder gar nicht für Mädchen; seine Zuneigung gelte eher jungen Männern. Man vermutete, daß er seine Wünsche bei gelegentlichen Besuchen in San Franzisko befriedigte, wo ihn seine Nachbarn nicht beobachten konnten. Die Leute im Ort redeten nicht viel darüber – es war ihnen ziemlich gleichgültig. St. Helena galt zwar als Kleinstadt, gab sich in der Beziehung aber recht modern; vielleicht lag das am Weinbau. Jetzt fragte sich Joshua freilich, ob die öffentliche Meinung sich in dem Punkt nicht geirrt hatte. Angesichts der ungewöhnlichen Ereignisse der vergangenen Woche sah es allmählich so aus, als hätte der Mann ein viel finstereres und unendlich schrecklicheres Geheimnis mit sich herumgetragen als bloße Homosexualität.
Bruno zog sofort nach Katherines Begräbnis, von ihrem Tod schwer erschüttert, aus dem Haus auf der Klippe aus.
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