Flüstern in der Nacht
seinem Apparat und legte damit Dr. Nicholas Rudges Anruf auf den Lautsprecher, so daß Tony und Hilary das Gespräch mithören konnten.
»Zuerst habe ich es bei Ihnen zu Hause versucht«, meinte Rudge. »Ich dachte nicht, daß Sie sich jetzt noch im Büro aufhalten würden.« »Ich bin ein Arbeitstier, Doktor.«
»Da sollten Sie versuchen, etwas dagegen zu unternehmen«, riet Rudge, und seine Stimme klang echt besorgt. »So darf man nicht leben. Ich habe schon eine ganze Menge Leute mit übermäßigem Ehrgeiz behandelt, die im Leben nichts anderes außer ihrer Arbeit kannten. Dieser zwanghafte Drang zu arbeiten kann einen kaputtmachen.«
»Dr. Rudge, worauf haben Sie sich fachlich spezialisiert?« »Psychiatrie.« »Das dachte ich mir.« »Sie sind der Nachlaßverwalter?«
»Ja. Ich nehme an, Sie haben alles über Mr. Fryes Tod gehört.«
»Nur das, was in der Zeitung stand.«
»Ich habe bei Durchsicht der Unterlagen herausgefunden, daß Mr. Frye Sie in den eineinhalb Jahren vor seinem Tod regelmäßig aufsuchte.« »Er kam einmal im Monat«, antwortete Rudge.
»Ist Ihnen bewußt, daß er zu einem Mord fähig war?« »Selbstverständlich nicht«, antwortete Rudge. »Sie behandelten ihn die ganze Zeit über und haben nicht bemerkt, daß er zu gewalttätigen Handlungen neigte?« »Ich wußte, daß bei ihm schwere seelische Störungen vorlagen«, erwiderte Rudge. »Aber ich dachte nicht, daß er jemandem gefährlich werden würde. Aber Sie müssen wissen, daß er mir wirklich keine Gelegenheit gab, seine gewalttätige Seite zu entdecken. Ich meine, er kam, wie gesagt, nur einmal im Monat. Ich empfahl ihm, mich wenigstens einmal pro Woche, vorzugsweise zweimal, aufzusuchen. Aber das hat er abgelehnt. Andererseits wollte er, daß ich ihm helfen sollte. Gleichzeitig hatte er aber Angst vor dem, was ich vielleicht über ihn herausfinden könnte. Nach einer Weile beschloß ich, ihn nicht zu sehr zu bedrängen, ihn nicht auf einen wöchentlichen Besuch festzulegen, aus Sorge darüber, daß er die Behandlung womöglich ganz aufgeben und nicht mal mehr einmal pro Monat kommen würde. Ich dachte mir, etwas Therapie sei besser als gar keine, verstehen Sie?« »Was hat ihn hergeführt?«
»Wollen Sie jetzt wissen, was mit ihm nicht in Ordnung war, worüber er klagte?« »Ja, das will ich.«
»Als Anwalt sollten Sie wissen, Mr. Rhinehart, daß ich derartige Informationen nicht ohne weiteres preisgeben darf. Ich habe die ärztliche Schweigepflicht zu beachten.« »Der Patient ist tot, Dr. Rudge.« »Das ändert auch nichts daran.« »Für den Patienten ändert das eine ganze Menge.« »Er hat mir sein Vertrauen geschenkt.«
»Wenn der Patient einmal tot ist, so hat die ärztliche Schweigepflicht doch kaum mehr juristische Bedeutung.« »Vielleicht ist das so«, meinte Rudge. »Aber die moralische Verpflichtung bleibt. Ich trage immer noch eine gewisse Verantwortung. Ich würde nichts tun, was den Ruf eines Patienten schädigen könnte, gleichgültig, ob er nun tot ist oder am Leben.« »Lobenswert«, antwortete Joshua spitz. »Aber in diesem Fall würde nichts, was Sie mir sagen könnten, seinen Ruf auch nur ein Jota mehr schädigen, als er ihn selbst schon geschädigt hat.«
»Auch das macht keinen Unterschied.« »Doktor, die besondere Situation verlangt es. Ich erhielt heute Informationen, die darauf hindeuten, daß Bruno Frye im Lauf der letzten fünf Jahre eine Anzahl Frauen ermordet hat, eine ziemlich große Zahl, ohne ertappt zu werden.« »Sie machen Witze.« .
»Ich weiß nicht, was Ihnen dabei komisch vorkommt, Dr. Rudge, aber ich mache keine Witze; es handelt sich um Massenmord.« Rudge verstummte.
»Außerdem besteht Grund zu der Annahme«, fuhr Joshua fort, »daß Frye nicht allein tätig war. Möglicherweise hat er bei seinen Morden einen Partner benutzt. Und es kann sein, daß dieser Mittäter noch frei herumläuft.« »Unvorstellbar.« »Das sagte ich ja.«
»Haben Sie die Polizei bereits informiert?« »Nein«, entgegnete Joshua. »Zum einen reicht es wahrscheinlich nicht aus, um die Aufmerksamkeit der Polizei zu erwecken. Was ich herausgefunden habe, überzeugt mich – mich und zwei weitere Personen, die auch in die Angelegenheit verwickelt sind. Aber die Polizei wird wahrscheinlich sagen, es handle sich nur um Indizien. Und darüber hinaus weiß ich nicht, welche Polizeibehörde für den Fall zuständig ist. Möglicherweise sind die Morde in verschiedenen Bezirken und verschiedenen Städten
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