Flüstern in der Nacht
jedes Zimmer sein mußte; sie zeichnete Pläne für ihr ideales Zuhause und bewahrte sie in einer Schublade auf, holte sie hier und da heraus, nur um sie anzustarren und zu träumen. Sie wollte unbedingt Kinder, doch erst dann, wenn sie sorgenfrei in ihrem eigenen Haus leben würden. Barbara Ann plante so ziemlich jede Eventualität mit ein – nur den Krebs nicht. Sie erkrankte an einer bösartigen Form von Lymphdrüsenkrebs, den die Ärzte zwei Jahre und zwei Tage nach ihrer Heirat mit Frank diagnostizierten. Drei Monate später starb sie. Tony saß in der Nische im Bolt Hole mit einem schon fast warmen Glas Bier vor sich, und hörte Frank Howard zu, und erkannte, daß dieser Mann hier und heute sein ganzes Leid zum ersten Mal mit irgend jemandem teilte. Seit Barbara Anns Tod, 1958, vor zweiundzwanzig Jahren, hatte Frank in all der Zeit seinen Kummer niemandem gegenüber zum Ausdruck gebracht, diesen Schmerz, den er empfunden haben mußte, als sie dahinsiechte und schließlich starb. Das war eine Pein, die nie nachließ; sie brannte jetzt ebenso heftig in ihm wie damals. Frank trank wieder einen Scotch und suchte nach Worten, um diese Qual zu beschreiben; und Tony staunte über die Empfindsamkeit und die Tiefe seines Gefühls, die er sonst so gut hinter dem harten teutonischen Gesicht und den ausdruckslosen blauen Augen verbarg.
Der Verlust seiner Barbara Ann hatte Frank schwach und verwundbar gemacht, ihn irgendwie von seiner Umwelt abgeschnitten, aber er hatte die Tränen und die Pein mit aller Kraft verdrängt, aus Angst, er würde sich nie wieder in den Griff kriegen, wenn er ihnen einmal nachgab. Er fühlte damals jene selbstzerstörerischen Regungen in sich: den schrecklichen Hang zum Alkohol, den er vor dem Tod seiner Frau nie gekannt hatte; die Tendenz, rücksichtslos und schnell zu fahren, obwohl er früher eher defensiv fuhr. Um sich vor sich selbst zu schützen, hatte er seine Pein verdrängt und sich in seine Arbeit gestürzt, sein ganzes Leben der Polizei gewidmet und versucht, Barbara Ann in langen Stunden der Arbeit und des Studiums zu vergessen. Ihr Verlust hatte in ihm quälende Leere hinterlassen, die nie mehr ausgefüllt werden sollte. Mit der Zeit gelang es ihm, jene Leere mit einem geradezu zwanghaften Interesse für seine Arbeit zu übertünchen. Neunzehn Jahre lang überlebte er im monotonen Dasein eines Arbeitssüchtigen. Als Streifen-beamter mußte er exakten Schichtdienst einhalten, also ging er an fünf Abenden in der Woche und auch Samstags zur Schule und schaffte sein Diplom in Kriminologie. Diese Urkunde und die ausgezeichneten Beurteilungen in seinen Personalakten verhalfen ihm zum Aufstieg in den gehobenen Kriminaldienst, wo er, ohne irgendwelche Dienstpläne zu stören, auch weit über seine vorgeschriebene Arbeitszeit hinaus schuften konnte. An seinen Zehn-, Zwölf oder Vierzehn-Stunden-Arbeitstagen dachte er nur an die Fälle, die man ihm zugeteilt hatte. Selbst nach Dienstschluß beschäftigte er sich noch mit den laufenden Ermittlungen und schloß damit so ziemlich alles andere aus seinem Bewußtsein aus, grübelte nur noch über die Fälle nach, unter der Dusche oder vor dem Schlafengehen, Frank brütete stets über neuem Beweismaterial, sei es beim Frühstück im Morgengrauen oder spät nachts beim Abendessen. Er las praktisch nicht anderes als Fachliteratur und Fallstudien. Neunzehn Jahre lang war er ein Polizist mit Leib und Seele, ein Polizist, für den außerhalb der Polizei keine andere Welt existierte.
In all den Jahren hatte er sich niemals ernsthaft mit einer Frau eingelassen. Ihm fehlte die Zeit, um mit Frauen auszugehen; irgendwie schien ihm das auch unpassend, es war Barbara Ann gegenüber nicht fair. Er lebte wochenlang enthaltsam und machte dann ein paar wilde Nächte mit bezahlten Partnerinnen durch. Mit einer Prostituierten zu schlafen bedeutete für ihn gewissermaßen keinen Verrat an Barbara Ann, weil die Bezahlung dafür die Sache an sich zu einer geschäftlichen Transaktion und deshalb nicht im entferntesten zu einer Herzensangelegenheit machte. Eines Tages lernte er Wilma Compton kennen. Frank lehnte sich zurück; der Name schien ihm die Kehle abzuschnüren. Er wischte sich mit der Hand über das schweißnasse Gesicht, fuhr sich wieder mit den Fingern durchs Haar und sagte: »Ich brauch' noch einen doppelten Scotch.« Es bereitete ihm einige Mühe, die Silben voneinander so zu trennen, daß es verständlich klang; aber dieser Versuch hörte sich noch
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