Flüstern in der Nacht
Sein fünfundzwanzigster Geburtstag schien höchstens ein Jahr zurückzuliegen. Dabei war seither ein ganzes Jahrzehnt verstrichen. Vielleicht ist Hilary Thomas die Auserkorene, dachte er, als er vor seinem Apartment parkte. Sie ist etwas ganz Besonderes, das weiß ich. Etwas ganz Besonders. Vielleicht wird sie glauben, daß auch ich etwas ganz Besonderes bin. Vielleicht könnte es klappen mit uns – oder nicht? Eine Weile saß er in seinem Jeep und starrte in den Nachthimmel, dachte über Hilary Thomas nach und übers Älterwerden und das einsame Sterben.
Um halb elf, Hilary war ganz in ihren James-Clavell-Roman versunken und hatte gerade einen Apfel und etwas Käse verspeist, klingelte das Telefon. »Hallo?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Wer ist da?« Nichts.
Sie knallte den Hörer auf die Gabel. So sollte man reagieren, wenn man drohende oder obszöne Anrufe erhielt. Einfach auflegen. Auf keinen Fall den Anrufer ermuntern. Einfach schnell und scharf auflegen. Daß der Anrufer sich nicht verwählt hatte, stand jetzt fest. So etwas passierte nicht zweimal am selben Abend, und jedesmal ohne Entschuldigung. Außerdem wirkte das Schweigen irgendwie bedrohlich, schien eine unausgesprochene Drohung zu bedeuten. Selbst nach ihrer Nominierung für den Oscar hatte sie es nie für nötig erachtet, eine Geheimnummer zu beantragen.
Schriftsteller zählten nicht zur Prominenz, so wie Schauspieler oder Regisseure. Die Öffentlichkeit interessierte sich nie besonders dafür, wer das Drehbuch verfaßt hatte. Die meisten Drehbuchautoren besorgten sich eine Geheimnummer, weil das nach Prestige aussah, weil der Betreffende sich anscheinend mit so vielen wichtigen Projekten beschäftigte, daß er selbst für seltene unerwünschte Anrufe einfach keine Zeit hatte. Aber für sie bestand dieses Ego-Problem nicht, und ihren Namen im Telefonbuch stehenzulassen, schien ebenso anonym, wie ihn herauszuholen.
Aber vielleicht traf das inzwischen nicht mehr zu. Vielleicht hatten die Berichte in den Medien über ihre zwei Begegnungen mit Bruno Frye sie zu einem Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gemacht – das, was zwei erfolgreiche Drehbücher nicht geschafft hatten. Eine Frau, die jemanden, der sie vergewaltigen wollte, abwehrte und ihn beim zweiten Mal sogar tötete – das könnte durchaus eine ganz bestimmte Schicht krankhafter Persönlichkeiten faszinieren. Vielleicht verspürte nun irgendein Tier dort draußen den Drang, den Beweis anzutreten, daß ihm das gelingen konnte, was Bruno Frye mißglückt war.
Sie beschloß, gleich morgen früh die Telefongesellschaft anzurufen und eine neue, geheime Nummer zu beantragen.
Um Mitternacht lag die städtische Leichenhalle, wie der Leichenbeschauer selbst einmal gesagt hatte, so still da wie ein Grabmal. In den schwach beleuchteten Korridoren herrschte absolutes Schweigen. Das Labor lag im Finstern. Der Raum voll mit Leichen war kalt, lichtlos und still, abgesehen vom insektenartigen Summen der Ventilatoren, die gekühlte Luft durch die Gitter in den Wänden hineinpumpten. Von Donnerstagnacht bis Freitagmorgen schob nur ein Mann in der Leichenhalle Dienst. Er saß in einem kleinen Raum direkt neben dem Büro des Leichenbeschauers auf einem Drehstuhl vor einem häßlichen Stahlschreibtisch mit einer Auflage aus Holzimitat. Er hieß Albert Wolwicz, war neunundzwanzig, geschieden und Vater eines Kindes, einer Tochter namens Rebecca. Seiner Frau hatte man das Erziehungsrecht über Becky zugesprochen. Sie wohnten jetzt beide in San Diego. Albert machte es nichts aus, in der Nachtschicht zu arbeiten. Er erledigte ein paar Ablagearbeiten, saß zwischenzeitlich eine Weile nur da und hörte Radio, legte dann noch einmal einige Papiere ab und las später ein paar Kapitel in einem wirklich guten Stephen-King-Roman über Vampire, die in New England ihr Unwesen trieben; und falls die Stadt die ganze Nacht ruhig blieb, also die uniformierten Bullen oder die Boys der Fleischwagen keine Bahren mit Produkten von Unfällen auf den Freeways oder von Bandenkämpfen hereintrugen, dann würde der Dienst bis zum Morgen nicht besonders anstrengend verlaufen.
Um zehn Minuten nach Mitternacht klingelte das Telefon. Albert hob ab. »Leichenhalle.« Stille.
»Hallo?« sagte Albert.
Der Mann am anderen Ende der Leitung stöhnte vor Qual und begann zu weinen.
»Wer ist da?«
Der Anrufer weinte so heftig, daß er keine Antwort herausbrachte.
Die gequälten Geräusche klangen fast
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