Flüstern in der Nacht
Tony hörte allen möglichen Leuten bereitwillig und aufmerksam zu, weil er als Maler stets jene verborgenen, faszinierenden Muster suchte, die der ganzen menschlichen Existenz und ihrer Bedeutung zugrunde lagen. Selbst jetzt, da er Frank zuhörte, dachte er an ein Zitat Emersons, das er vor langer Zeit irgendwo las: Die Sphinx muß ihr eigenes Rätsel lösen. Wenn die ganze Geschichte in einem Menschen ist, dann kann man sie ganz aus der Erfahrung eines einzelnen erklären. Alle Männer, Frauen und Kinder bildeten faszinierende Rätsel, große Geheimnisse, und so kam es, daß ihre Geschichten Tony nur selten langweilten.
Immer noch derart leise, daß Tony sich vorbeugen mußte, um ihn besser verstehen zu können, fuhr Frank fort: »Pozley wußte, was Wilma mit mir im Sinn hatte. Es sieht so aus, als hätten sie sich, während ich meiner Arbeit nachging, mehrmals pro Woche getroffen. Und die ganze Zeit über, in der sie die perfekte Ehefrau spielte, stahl sie mir alles, was ich besaß, und bumste diesen Pozley. Je mehr ich darüber nachdachte, desto wilder wurde ich, bis ich schließlich beschloß, es meinem Anwalt zu sagen, was ich von Anfang an hätte tun sollen.«
»Und da war es zu spät?«
»Darauf läuft es in etwa hinaus. Oh, ich hätte sie natürlich irgendwie verklagen können. Aber die Tatsache, daß ich sie während des Scheidungsverfahrens nicht des Diebstahls bezichtigt hatte, wäre sehr nachteilig für mich ausgefallen. Ich hätte den größten Teil des Geldes, das mir noch verblieben war, für Anwaltsgebühren ausgeben müssen und hätte wahrscheinlich den Prozeß trotzdem verloren. Also beschloß ich, das Ganze hinter mich zu bringen. Ich nahm mir vor, mich wieder in meine Arbeit zu stürzen, wie ich das auch nach Barbara Anns Tod getan hatte. Aber ich war doch viel tiefer verletzt, als mir klar gewesen war. Ich konnte meine Arbeit nicht mehr richtig machen. Jedesmal, wenn ich mit einer Frau zusammentraf ... ich weiß nicht. Ich denke, ich ... ich habe in allen Frauen Wilma gesehen. Schon beim geringsten Anlaß wurde ich den Frauen, die ich verhörte, gegenüber bösartig, und es dauerte nicht lange, da stand ich mit allen Zeugen auf Kriegsfuß, Männern wie Frauen. Ich fing an, den Überblick zu verlieren, Hinweise zu übersehen, die selbst ein Kind entdeckt hätte ... Und dann kam es zum Krach mit meinem Partner. Deshalb sitze ich jetzt hier.« Seine Stimme wurde von Sekunde zu Sekunde leiser; jetzt gab er sich auch keine Mühe mehr, verständlich zu klingen; er murmelte mehr als er sprach. »Nach dem Tode Barbara Anns hatte ich wenigstens meine Arbeit, wenigsten etwas. Aber Wilma hat mir alles genommen. Sie hat mein Geld genomm' und mein' Respekt und sogar mein' Ehrgeiz. Für mich ist einfach nix mehr wichtig.« Er schob sich aus der Nische, stand auf, schwankte wie ein Spielzeugclown auf Federn. »Muß mich entschuldigen. Muß pinkeln.« Er taumelte quer durchs Lokal zur Herrentoilette und wich jedem, dem er unterwegs begegnete, in weitem Bogen aus.
Tony seufzte und schloß die Augen. Er fühlte sich müde, körperlich und seelisch.
Penny kam zur Nische und meinte: »Sie würden ihm, glaub' ich, einen Gefallen tun, wenn Sie ihn jetzt nach Hause bringen. Morgen früh wird er sich wie ein halbtoter Ziegenbock fühlen.«
»Wie fühlt sich ein halbtoter Ziegenbock?« »Viel schlechter als ein gesunder Ziegenbock und viel schlechter als ein toter«, gab sie zurück.
Tony zahlte die Rechnung und wartete auf seinen Partner. Nach fünf Minuten nahm er Franks Jackett und Krawatte und ging ihn suchen.
Die Herrentoilette war klein: eine Zelle, ein Urinal, ein Waschbecken. In dem kleinen Raum roch es stark nach Desinfektionsmittel mit Fichtennadelaroma und etwas nach Urin. Frank stand mit dem Rücken zur Tür an einer mit Kritzeleien bedeckten Wand, als Tony eintrat. Er schlug mit den offenen Handflächen über seinem Kopf gegen die Wand, mit beiden Händen gleichzeitig, wobei er laut klatschende Geräusche erzeugte, die in dem engen Raum mit seiner hohen Decke hallten. BAM-BAM-BAM-BAM-BAM-BAM-BAM! Draußen konnte man es nicht hören, weil die Gespräche der Gäste und die Musik es übertönten, aber hier drinnen schmerzte es in Tonys Ohr. »Frank?«
BAM-BAM-BAM-BAM-BAM-BAM-BAM-BAM! Tony ging auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter, zog ihn sachte von der Wand weg und drehte ihn herum. Frank weinte. Seine blutunterlaufenen Augen standen voller Tränen, die ihm übers Gesicht liefen. Seine
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