Fluesterndes Gold
herzukommen.«
»Nein!«
»Was? Kannst du ihn nicht leiden? Ich habe gehört, dass du und er und Devyn und Issie zusammen in der ganzen Stadt unterwegs seid. Heute wart ihr in der Bibliothek, stimmt’s?«
»Spionierst du mir nach?«
»Nein. Die Stadt ist klein. Die Menschen reden.«
Ich schüttle den Kopf, nehme mir ein Glas und öffne den Kühlschrank. »Du rufst Nick nicht an.«
Sie zieht ein paar Papierservietten unter der Spüle hervor und wirft sie auf den Tisch. »Wahrscheinlich werde ich sowieso nicht gerufen.«
Noch während des Essens geht Bettys Piepser los.
»Mist!«
Wir lauschen. Verdacht auf Herzstillstand auf der Y.
»Tut mir leid«, sagt sie. »Du rührst dich nicht von der Stelle, bis ich zurück bin, okay? Ich rufe Nick von unterwegs aus an.«
»Nein, das tust du nicht.«
»Doch, genau das tue ich. Und lass niemanden herein. Ich meine es ernst, Zara. Mist.« Hektisch küsst sie mich auf den Kopf und streift mir einen Armreif über das Handgelenk. »Deine Mutter überlegt, ob sie zu Besuch kommen soll.«
Ich hebe den Arm. Dort baumelt ein eiserner Armreif. »Was ist das?«
»Ein kleines Geschenk.«
Sie zieht ihre Jacke über. »Ich bin so schnell wie möglich wieder da. Um das Kücheaufräumen brauchst du dich nicht zu kümmern.«
»Ruf Nick nicht an!« Ich berühre das kalte Metall des Armreifs.
Sie ignoriert mich. »Schließ die Tür ab!«
Ich könnte die Aktionsaufrufe für Amnesty schreiben. Aber ich tue es nicht.
Ich könnte Nick anrufen und ihm sagen, dass er nicht kommen soll. Aber das tue ich auch nicht.
»Hier spricht Eins. Ich bin 10-23 auf der Y.« Bettys Stimme tönt aus dem Funkgerät, das auf der Küchentheke steht.
Dann höre ich Josie, die Frau von der Leitstelle. »10-4, Einheit Eins. 10-23 auf der Y, 1845.«
In der Rettungswagensprache bedeutet 10-23 »vor Ort«. Jeder andere würde einfach sagen, dass er da ist. Einheit Eins ist Betty, 1845 ist die Zeitangabe, 18 Uhr 45. Alles ein bisschen abgeschmackt.
Betty ist also auf der Y. Es ist 18 Uhr 45 oder auch 1845. Woher ich das alles weiß? Betty hat eine Liste mit zehn Codes an den Kühlschrank gehängt. Und die Hälfte davon habe ich schon auswendig gelernt. Ehrlich. Maine macht noch einen echten Streber aus mir.
Ich schiebe einen Stuhl vom Tisch weg, stelle unsere Teller auf die Spüle und fange an, die Spaghetti von ihnen runterzukratzen. Betty hat nicht alles aufgegessen, weil sie rasch losmusste, deshalb überlege ich es mir anders. Ich decke den Teller mit Folie ab und stelle ihn in den Kühlschrank. Vielleicht hat sie später noch Hunger. Meine Spaghetti kratze ich vom Teller. Es macht keinen Spaß, alleine zu essen.
Durch das Fenster über der Spüle starre ich in den dunklen Wald. Der Vollmond lässt alles leuchten, sodass es fast hübsch aussieht. Sogar der Schnee sieht nett aus, gar nicht so kalt. Ich könnte wetten, dass der Elfentyp da draußen ist. Und wenn ich rausgehen würde, dann würde er mich finden und ich würde ein paar Antworten bekommen. Außerdem bin ich kein Junge und deshalb wahrscheinlich nicht wirklich in Gefahr.
Bettys Stimme dringt wieder aus dem Funkgerät. »Ich bin auf 10-6 und bringe einen 45-jährigen Mann nach Bangor. CH3. 10-4?«
Herzprobleme. Schmerzen in der Brust. Wie mein Dad.
»10-4«, sagt Josie.
»10-4«, sage ich zu dem Funkgerät, als ob sie mich hören könnten. »Ich bin auf 10-6, gehe laufen, suche einen Elfen-Typen. 10-3?«
Im Laufschritt nehme ich die Treppe zu meinem Zimmer hinauf und hole meine Laufklamotten. Ich habe warme Laufhosen und eine Schicht Funktionsunterwäsche, um den Schweiß von der Haut wegzutransportieren. Der Schweiß lässt dich nämlich frieren. In Bettys Schrank finde ich eine Wollmütze, die ich mir über den Kopf ziehe, was so ziemlich der mieseste Look ist, den man sich vorstellen kann, wenn man so viele dünne Haare hat wie ich. Aber ich geh ja nicht zu einem Schönheitswettbewerb und will Miss Maine werden oder so. Ich gehe laufen, im Dunkeln, niemand sieht mich. Bis Nick kommt.
Wohl wahr.
Ich gehe laufen und vielleicht finde ich diesen Elfentypen, der die Jungen verschleppt. Ich ziehe mir die Mütze über und halte, ohne wirklich nachzudenken, einen Augenblick inne. Im Spiegel sehe ich die blasse und dünne Ausgabe meiner selbst, zu der ich mich in letzter Zeit entwickelt habe. Sogar meine Augen sind stumpf. Zwar immer noch blau, aber nicht mehr so blau, wie sie mal waren. Wenn mein Dad hier wäre, würde er mir Fieber
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