Fluesterndes Gold
Charleston bin ich durch alle möglichen Viertel gerannt und hatte nie Angst.
Ich hasse es, Angst zu haben.
»Wenn du etwas benennen kannst, ist es nicht mehr so furchteinflößend«, hat mein Dad immer gesagt. »Menschen fürchten sich vor dem, was sie nicht kennen.«
Ich wende den Kopf und suche mit den Augen den Wald ab, sehe aber nur Bäume und Schatten. Ich kann nicht erkennen, dass dort jemand oder etwas ist.
In meinem Kopf steigen Bilder von Bären auf und Wölfen, aber in Maine gibt es nur Schwarzbären, und die haben ziemlich viel Angst vor Menschen. Die lokale Behörde für Fischerei und Wildleben schwört Stein und Bein, dass es in Maine keine Wölfe gibt, sondern nur Koyoten. Ich weiß das, weil ich auf der Website der Behörde nachgesehen habe, nachdem ich an meinem ersten Morgen die riesigen Spuren im Schnee gesehen hatte. Ich habe Grandma Betty von ihnen erzählt. Was hat sie noch mal gesagt?
»Sie wollen nicht zugeben, dass es hier Wölfe gibt, aber jeder weiß, dass sie da sind. Trotzdem brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wölfe wollen nichts von Menschen.«
Und das rede ich mir jetzt ein: Wölfe wollen nichts von Menschen. Wölfe wollen nichts von Menschen.
Es hilft nicht.
Wölfe wollen nichts von Menschen. Elfen wollen was von Menschen.
Ausgehend von meinen Handflächen breitet sich das krabbelige Gefühl wieder aus.
Und da höre ich es.
Mein Name.
»Zara.«
Ich strauchle, stolpere über einen Stein oder so, der auf dem Standstreifen der Straße liegt. Warum sind hier keine Autos unterwegs? Ach so, Maine ist ja nicht gerade der bevölkerungsreichste Staat im Land, und Bettys Teil von Maine schon gar nicht.
Ich renne weiter, lege noch einen Zahn zu und lausche. Da höre ich es wieder. Es scheint von jedem einzelnen Baum im Wald widerzuhallen. Es scheint von beiden Seiten der Straße zu kommen, von hinten, von überall. Aber es klingt sanft. Ein sanftes, aber gebieterisches Flüstern.
»Zara. Komm zu mir, Zara.«
Es klingt so schmalzig und erinnert so an eine Zeile aus einem schlechten Musical, dass es gar nicht so unheimlich ist. Oh, das ist eine große Lüge. Ich habe schreckliche Angst. Scheiße. ScheißeScheißeScheiße.
Ich wollte das. Ich wollte ihn herauslocken. Und jetzt? Die Angst treibt meine Füße an und lässt mein Herz zu schnell klopfen. Es hämmert gegen meine Brust, als versuche es zu entkommen. Aber wem? Einer Stimme? Einem Schatten? Ich bin hier rausgekommen, um ihn zu finden. Jetzt hat er mich gefunden.
Die Wahrheit trifft mich mit voller Wucht:
Ich habe mir den Mann am Flughafen nicht eingebildet.
Ich habe mir nicht eingebildet, wie sich meine Haut anfühlte, immer wenn ich ihn sah.
Ich habe mir den Staub nicht eingebildet und auch die Wörter in dem Buch habe ich mir nicht ausgedacht.
Das Geräusch von großen Schwingen, die durch die Luft schlagen, lässt mich aufschauen. Ein Adler fliegt über meinen Kopf hinweg und taucht dann in den Wald ein. Sein weißer Kopf leuchtet.
»Was bin ich blöd«, sage ich mir. »Wahrscheinlich habe ich nur den Adler gehört.«
Wenn mein Dad hier wäre, würde er darüber lachen, was für ein Feigling ich bin. Ich selbst lache darüber, was für ein Feigling ich bin, und renne weiter. Mein Atem geht stoßweise. Ich zwinge mich ein-und auszuatmen und konzentriere mich auf meine Füße.
»Zara!«
Ich bleibe stehen. Wut steigt in mir auf. Zum Teufel mit dem Feigling. Zum Teufel mit den Sprüchen von Booker T.
»Was?«
Ich bleibe abwartend stehen.
Die kalte Luft lässt mich frösteln. Ich zittere. Meine Hände ballen sich zu Fäusten.
»Was willst du?«, schreie ich. »Warum folgst du mir?«
Ich reiße die Augen weit auf und leuchte mit der Stirnlampe suchend herum. Was suche ich? Vielleicht einen Mann? Vielleicht einen Mann in einem dunklen, europäischen Anzug? Vielleicht einen Mann, der auf Flugzeuge zeigt und auf der Haut das Gefühl erzeugt, als wäre sie ein Paradeplatz für Spinnen?
Der Wald scheint mit mir gemeinsam Ausschau zu halten. Jeder Zweig streckt sich aus, als wolle er erspüren, was da mit mir zusammen auf der Straße ist. Dann bewegt sich etwas im Wald. Ich hebe einen Stock auf, der neben der Straße liegt, halte ihn vor mich und drehe mich in die Richtung des Geräusches. Der Lichtkegel dreht sich mit mir, und ich suche weiter. Eigentlich ist es kein Geräusch, eher ein Gefühl, das Gefühl einer Bewegung.
»Ich hab keine Angst«, rufe ich und spähe in die Dunkelheit neben der Straße. »Komm
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