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Fluesterndes Gold

Fluesterndes Gold

Titel: Fluesterndes Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Jones
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zunehmende Dunkelheit hinein. Es ist fast Nacht.
    »Hast du Nick geholt? Ich trete dich in den Arsch, wenn du Nick geholt hast. Ehrenwort.«
    Vor mir öffnet sich eine kleine Lichtung. Junge Fichten stehen wie Wachen im Kreis. Es beginnt zu schneien. Ich halte inne und stehe allein in der Mitte des Kreises, während der Schnee immer dichter fällt.
    »Du willst mich in die Irre führen«, rufe ich. Ich hebe drohend den Schürhaken, aber dann lasse ich ihn wieder sinken, denn ich will ihm ja nicht zeigen, dass ich Angst habe. Ich habe keine Angst. »Du gehst mir wirklich auf die Nerven!«
    Keine Antwort.
    »Ich bilde mir deine Stimme nicht ein!«
    Immer noch keine Antwort.
    Mein Kopf pocht. Es gibt einen Namen für diese Angst, für die Angst vor einer Stimme. Aber er fällt mir nicht ein. Verdammt.
    Phobophobie, die Angst vor der Angst.
    Phonophobie, die Angst vor Geräuschen oder Stimmen.
    Photoaugliaphobie, die Angst vor blendendem Licht.
    Photophobie, die Angst vor Licht.
    Das ist sie. Und welche Angst kommt im Alphabet als nächste?
    Phronemophobie, die Angst vor den Gedanken.
    Ich habe keine Angst davor nachzudenken. Denken beruhigt mich. Ich suche mit den Augen den Waldrand ab, starre angestrengt in die Nacht.
    Wo bin ich?
    Im Wald.
    Wo ist Nick?
    Keine Ahnung. Er hat ihn nicht verschleppt. Das darf nicht sein.
    Wo ist die Stimme?
    Ich greife in die Tasche nach meinem Handy, aber es ist noch in meiner Sporttasche. Ich schüttle den Kopf. Kann man so blöd sein? Ich folge der Stimme eines verrückten Elfen, der wahrscheinlich ein Serienmörder ist, renne in einen Wald hinein, der eines Steven-King-Romans würdig wäre, und habe mein Handy nicht dabei.
    Ein kehliger, panischer, kläglicher Laut entschlüpft meinen Lippen. Ich schlucke und richte mich auf. So wird das nicht laufen. Ich werde nicht warten, bis der Mörder mich kriegt, und als Jammerlappen sterben.
    Der Schnee bedeckt die Fichten. Er berührt meine Haare, legt sich auf meine Jacke und meine Hose und dringt in meine Turnschuhe ein. Er fällt so dicht, dass der Boden schon fast bedeckt ist. Das heißt, dass es Fußspuren gibt, denen ich oder jemand anders folgen kann.
    »Zara«, ertönt die Stimme wieder. »Komm zu mir.«
    Ich schüttle den Kopf. Ich habe mich schon wider alle Vernunft benommen. Ich werde die Sache nicht noch schlimmer machen. »Nein.«
    Ich wische mir den Schnee aus dem Gesicht.
    »Hier entlang.«
    Ich halte mir die Ohren zu und bewege mich nicht.
    »Ich habe mich verirrt. Du hast mich in die Irre geführt«, sage ich mit schwacher Stimme, »und das ist total fies.«
    Und dann höre ich es: ein amüsiertes Lachen, aber neben dem Lachen noch etwas anderes: ein Heulen.
    Von einem Wolf?
    Es ist ein Hund. Es muss ein Hund sein. Einen Wolf kann ich im Augenblick nicht gebrauchen.
    Ich lausche wieder. Vielleicht stimmt es ja, was ich in der vierten Klasse in den alten Büchern gelesen habe, in denen Schäferhunde und Bernhardiner immer Menschen in Not gerettet haben. Vielleicht ist ein netter Hund gekommen und rettet mich vor wem oder was immer sich im Wald verbirgt. Vielleicht baumelt an seinem Hals sogar ein Fässchen Bier. Mir egal. Im Augenblick würde ich auch einen Werwolf nehmen. Alles würde ich nehmen.
    Mit der Hoffnung ist es schon merkwürdig. Sie sorgt dafür, dass du den Glauben nicht verlierst.
    Ich renne auf das Heulen des Hundes zu, sehne mich nach einem weichen Fell und einer sabbernden Schnauze. Das Heulen klingt jetzt näher, es kommt von hinten. Ich laufe, ohne auf den Schnee zu achten, ohne daran zu denken, dass er Wurzeln und Steine verbirgt und jeder Schritt gefährlich sein könnte.
    Ich bleibe stehen und hole Luft. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Wegen meiner Gehirnerschütterung dreht sich alles in meinem Kopf.
    Einatmen, Zara.
    Ausatmen, Zara.
    Die Phobien aufzählen.
    Ich kann nicht. Mir fällt keine Einzige ein.
    Einatmen.
    Mrs Nix!
    Sie hat gesagt, dass man die Jacke auf links anziehen muss, damit man sich nicht verirrt. Klar, sie spinnt, und das ist alles nur ein blöder Aberglaube, aber ich bin bereit, es zu tun. Im Augenblick würde ich alles tun.
    Ich reiße mir die Jacke vom Leib und drehe sie auf links. Dann ziehe ich das Sweatshirt aus und drehe es auch um. Die Ärmel fühlen sich merkwürdig eng an.
    »Schlimmer kann es nicht werden«, murmle ich den Bäumen zu und laufe wieder los.
    Ich weiß nicht genau, wie lange ich durch den Wald gerannt bin. Ich laufe blind, streife Baumstämme, meine Haare

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