Flug 2039
aus Todesanzeigen kenne. Die Namen von Leuten, die meinem Rat gefolgt sind, sind hier für die Ewigkeit eingemeißelt.
Tu es. Töte dich.
Geliebter Sohn. Edle Tochter. Treuer Freund.
Drück ab.
Erhabene Seele.
Hier bin ich. Jetzt musst du bezahlen. Also tu es.
Krieg mich doch.
Ich will von Fleisch fressenden Zombies gejagt werden.
Ich will an der eine Nische verschließenden Marmorplatte vorbeigehen und dahinter etwas scharren und zappeln hören. Nachts lege ich ein Ohr an den kalten Marmor und warte. Das ist der wahre Grund meines Hierseins.
Objekt Nummer 786, schreibe ich in mein Notizbuch, hat einen Hauptstiel aus mit grüner Baumwolle umwickeltem Hutmacherdraht der Stärke 30. Die Blattstiele scheinen durchweg Stärke 20 zu haben.
Nicht dass ich verrückt bin oder so. Ich suche nur nach einem Beweis dafür, dass der Tod nicht das Ende ist. Dass es, selbst wenn mich eines Nachts in einem dunklen Korridor wahnsinnige Zombies packen und in Stücke reißen würden, zumindest nicht das absolute Ende wäre. Das würde mich ein wenig beruhigen.
Hätte ich den Beweis für irgendeine Art von Leben nach dem Tod, würde ich glücklich sterben. Also warte ich. Also halte ich Ausschau. Und horche. Lege das Ohr an die kalten Nischenwände. Ich schreibe: Keine Aktivität in Grabnische 7896.
Keine Aktivität in Grabnische 7897.
Keine Aktivität in Grabnische 7898.
Ich schreibe: Bei Objekt Nummer 45 handelt es sich um eine weiße Bakelitrose. Bakelit, der älteste synthetische Kunststoff, wurde 1907 von einem Chemiker erfunden, als er eine Mischung aus Phenol und Formaldehyd erhitzte. In der Sprache der viktorianischen Blumenkultur stand eine weiße Rose für Stille.
Der Tag, an dem ich das Mädchen kennen lerne, ist der beste Tag, um neue Blumen zu katalogisieren. Es ist der Tag nach dem Memorial-Day-Wochenende, und die Besuchermassen haben sich wieder einmal für ein Jahr verlaufen. Alle sind sie weg, und da entdecke ich dieses Mädchen und hoffe, dass es tot ist.
Am Tag nach dem Memorial Day schiebt der Hausmeister einen Abfallcontainer durch die Gänge und sammelt die frischen Blumen ein. Die unterste Güteklasse frischer Blumen heißt unter Floristen »Begräbnisgrün«.
Der Hausmeister und ich begegnen uns ab und zu, reden aber nie ein Wort miteinander. Er in seinem blauen Overall, einmal hat er mich mit dem Ohr an einer der Nischen erwischt. Als der Lichtfleck seiner Taschenlampe mich erfasste, sah er einfach in die andere Richtung. Ich hatte einen Schuh in der Hand und klopfte mit dem Absatz: Hallo. Ich morste: Hört mich jemand?
Das Problem mit Begräbnisgrün ist, dass es nur einen Tag lang gut aussieht. Am Tag danach beginnt es schon zu verfaulen. Und wenn dann die welken Blumen in den an jeder Nische angebrachten Bronzevasen die Köpfe hängen lassen, wenn sie dick verschimmelt ihr stinkiges Wasser auf den Marmorboden vertröpfeln, kann man sich nur allzu leicht vorstellen, was mit dem da drinnen eingeschlossenen geliebten Angehörigen los ist.
Am Tag nach dem Memorial Day schmeißt der Hausmeister sie alle weg. Die welkenden Blumen.
Zurück bleibt eine neue Ernte künstlicher Pfingstrosen, die Seide so durchtränkt mit dunkelvioletter Farbe, dass sie beinahe schwarz wirkt. Dieses Jahr sind Plastikorchideen mit künstlichen Duftstoffen in Mode. Die langen Polysilk-Ranken blauer und weißer Zaunwinden muss man einfach mitgehen lassen.
Zu den ältesten Objekten hier zählen Blumen aus Chiffon, Organza, Samt, Georgette, Crêpe de Chine und breiten Satinbändern. Ich trage Berge von Löwenmäulchen, Wicken und Salbei davon. Malven, Veilchen und Vergissmeinnicht. Künstlich und schön anzusehen, aber steif und kratzig; die neuen Blumen dieses Jahres sind mit glasklaren Plastiktautropfen besprenkelt.
Das Mädchen kommt einen Tag zu spät mit seinem wenig originellen Sammelsurium von Polyestertulpen und Anemonen, die in der viktorianischen Zeit für Trauer und Tod, Krankheit und Einsamkeit standen. Und wer beobachtet die Kleine von seiner Leiter aus, im hinteren Teil der Westgalerie, auf der sechsten Etage des Zufriedenheits-Flügels, und schreibt in sein kleines Notizbuch? Ich natürlich.
Bei der Blume vor mir handelt es sich um Objekt 237, eine Kunstseidenchrysantheme aus der Nachkriegszeit; während des Zweiten Weltkrieges gab es nämlich nicht genug Seide, Kunstseide oder Draht, um daraus Blumen zu basteln. Kriegsblumen sind aus Krepp- oder Reispapier, und trotz der trockenen Luft und der
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