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Flug 2039

Flug 2039

Titel: Flug 2039 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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konstanten Temperatur von zehn Grad hier im Columbia Memorial Mausoleum sind alle diese Blumen längst zu Staub zerfallen.
    Vor mir liegt Grabnische Nummer 678, Trevor Hollis, gestorben mit vierundzwanzig, hinterlässt Mutter, Vater und Schwester. Innig geliebt. Liebevoller Sohn. In liebender Erinnerung. Mein jüngstes Opfer. Ich habe ihn gefunden.
    Grabnische Nummer 678 liegt sehr weit oben in der Wand. Um sie näher zu betrachten, brauche ich eine Trittleiter oder eine Hebebühne. Selbst während ich oben auf der Trittleiter stehe, zwei Stufen höher als es die Sicherheitsvorschriften erlauben, kann ich aber deutlich erkennen, dass dieses Mädchen anders ist als die anderen. Sie hat etwas Europäisches. Wirkt unterernährt. Sie nimmt nicht die empfohlene Tagesdosis Nahrung und Sonne zu sich, die eine Frau nach nordamerikanischen Maßstäben zur Schönheit machen. Ihre Arme und Beine sind rau und bleich und wirken wächsern. Man könnte sich vorstellen, dass sie hinter Stacheldraht lebt. Und in mir steigt die verzweifelte Hoffnung auf, dass sie womöglich tot ist. Ähnliche Gefühle habe ich, wenn ich mir zu Hause alte Filme ansehe, in denen Vampire und Zombies voller Gier auf Menschenfleisch aus den Gräbern klettern. In mir schwelt dieselbe verzweifelte Hoffnung, die mich auch überkommt, wenn ich diese hungrigen Untoten sehe und dabei denke: O bitte, o bitte, o bitte.
    Ich verzehre mich vor Sehnsucht, von einem toten Mädchen gepackt zu werden. Mein Ohr an ihre Brust zu legen und nichts zu hören. Die Vorstellung, von Zombies benagt zu werden, gefällt mir sogar noch besser als die, dass ich bloß aus Fleisch und Blut und Haut und Knochen bestehe. Dämonen, Engel oder böse Geister, egal, irgendetwas soll sich mir endlich zeigen. Teufel, Gespenster oder langbeinige Bestien, egal, es soll mich nur irgendetwas an der Hand halten.
    Von hier oben vor der sechsten Nischenreihe sieht ihr schwarzes Kleid aus, als wäre es auf Hochglanz gebügelt. Ihre dünnen weißen Arme und Beine scheinen wie mit künstlicher Menschenhaut minderer Qualität umwickelt zu sein. Selbst von hier oben wirkt ihr Gesicht wie ein Fließbandprodukt.
    Das Hohelied, Kapitel sieben, Vers zwei:
    »Wie schön ist dein Gang in den Schuhen, du Fürstentochter! Deine Lenden stehen gleich aneinander wie zwei Spangen, die des Meisters Hand gemacht hat …«
    Auch wenn draußen alles im Sonnenlicht liegt, ist hier drinnen alles kalt. Das Licht fällt durch buntes Glas. Der Geruch ist wie Regenwasser in die Zementmauern eingezogen. Alles fühlt sich an wie polierter Marmor. Und ständig dieses Geräusch wie Regentropfen, die an Stahlträgern hinablaufen, wie Regen, der durch die gesprungenen Dachfenster tröpfelt, wie Regenwasser in noch nicht verkauften Grabnischen.
    Luftige Gebilde aus Staub und Hautschuppen und Haaren kreiseln über den Fußboden. Manche Leute nennen das Geisterkacke.
    Das Mädchen blickt auf und muss mich daher sehen, und dann schwebt sie in ihren schwarzen Filzschuhen lautlos über den Marmorboden auf mich zu.
    Sich hier zu verlaufen ist ein Kinderspiel. Kreuz und quer treffen sich die Gänge. Um eine bestimmte Grabnische zu finden, braucht man einen Lageplan. Die Galerien erstrecken sich perspektivisch verkürzt eine hinter der anderen bis zum Horizont, sodass das geschwungene Sofa oder die Marmorstatue da ganz hinten etwas sein könnte, auf das man niemals kommen würde. Die allgegenwärtigen pastellweichen Marmortöne sorgen dafür, dass man, auch wenn man sich verlaufen hat, nicht in Panik gerät.
    Das Mädchen steigt die Leiter hoch, und ich bin oben in der Falle, in halber Höhe zwischen ihr da zu meinen Füßen und dem gemalten Himmel voller Engel über mir. Der glänzende Marmor zwischen den Nischen spiegelt mich in voller Größe neben den Grabschriften wider.
    Dieser Stein wurde errichtet zu Ehren von.
    Errichtet an dieser Stelle.
    Errichtet in liebendem Gedenken.
    Das alles bin ich.
    Meine kalten Finger krallen sich um den Bleistift. Objekt Nummer 98 ist eine rosa Kamelie aus Chinaseide. Das reine Rosa beweist, dass die Zuchtseide in Seifenwasser gekocht wurde, um das Serizin vollständig zu entfernen. Der Stängel ist aus Draht und mit dem für die damalige Zeit typischen grünen Polypropylen umhüllt. Kamelien stehen angeblich für unübertrefflich gute Eigenschaften.
    Die schlichte runde Maske des Mädchengesichts blickt vom unteren Ende der Leiter zu mir herauf. Keine Ahnung, woran ich erkennen könnte, ob sie ein

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