Flug 2039
sie gegangen ist, den Hals aufschneide.
Während ich unterschreibe, fragt sie mich: »Haben Sie die Frau hier in der Straße gekannt, die in dem großen graubraunen Haus gearbeitet hat?«
Nein. Ja. Okay, ich weiß, wen sie meint.
»Eine große Frau. Langes blondes Haar, zu einem dicken Zopf gebunden. Eine echte Brünhild«, sagt die Sozialarbeiterin. »Na ja, die ist vor zwei Tagen ausgestiegen. Hat sich nachts mit einer Verlängerungsschnur erhängt.« Die Sozialarbeiterin studiert ihre Fingernägel, die Finger erst in die Handfläche gedrückt, dann auseinander gespreizt. Dann wühlt sie wieder in ihrer Stofftasche und holt ein Fläschchen mit knallrotem Nagellack hervor. »Tja«, sagt sie. »Die wäre ich los. War mir sowieso immer unsympathisch.«
Ich gebe ihr das Klemmbrett zurück und frage: Sonst noch jemand?
»Ein Gärtner«, sagt sie. Sie hält sich die kleine Flasche mit dem knallroten Inhalt und dem länglichen weißen Schraubverschluss ans Ohr und schüttelt sie. Mit der anderen Hand blättert sie suchend in den Formularen herum. Dann zeigt sie mir das Meldeblatt von Klient Nummer 134, auf dem ein großer roter Stempel prangt: ENTLASSEN. Darunter das Datum.
Der Stempel ist ein Überbleibsel von einem Programm zur stationären Behandlung. Dort bedeutete ENTLASSEN, dass ein Klient nach Hause gehen konnte. Jetzt bedeutet es, dass ein Klient tot ist. Aber einen Stempel mit dem Wort TOT wollte man nicht anfertigen lassen. Das hat mir die Sozialarbeiterin vor ein paar Jahren erzählt, als die Sache mit den Selbstmorden wieder losging. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Typischer Fall von Recycling.
»Er hat irgendein Herbizid geschluckt«, sagt sie. Sie dreht mit beiden Händen an der Flasche. Dreht. Dreht, bis ihr die Knöchel weiß hervortreten. »Diese Leute tun alles«, sagt sie, »um mich als Niete dastehen zu lassen.«
Sie schlägt die Flasche an die Tischkante und versucht dann noch einmal, sie aufzudrehen. »Hier«, sagt sie und reicht sie mir über den Tisch. »Könnten Sie das für mich aufmachen?«
Ich mache die Flasche auf, kein Problem, und gebe sie ihr zurück.
»Haben Sie die beiden gekannt?«, fragt sie mich.
Hm, nein. Gekannt habe ich sie nicht. Ich weiß, wer sie waren, aber ich kenne sie nicht von damals. Ich bin zwar nicht mit ihnen aufgewachsen, habe sie aber in den vergangenen Jahren ab und zu mal hier in der Gegend gesehen. Sind immer noch in den von der Kirche vorgeschriebenen Kleidern rumgelaufen. Der Mann mit Hosenträgern, weiter Hose und langärmligem Hemd, dessen Kragenknopf auch an den heißesten Sommertagen geschlossen war. Die Frau in dem mausgrauen Kittel, den die Credistinnen meines Wissens als Kleid zu tragen hatten. Auf dem Kopf das Häubchen. Der Mann trug immer den vorschriftsmäßigen breitkrempigen Hut, Stroh im Sommer, schwarzer Filz im Winter.
Ja. Okay. Die sind mir gelegentlich über den Weg gelaufen. Waren ja auch kaum zu übersehen.
»Als Sie sie gesehen haben«, sagt die Sozialarbeiterin, während sie sich mit dem kleinen Pinsel, rot auf rot, über die Fingernägel streicht, »waren Sie da aufgeregt? Oder haben Sie Trauer empfunden, wenn Sie Leute aus Ihrer alten Kirche gesehen haben? Haben Sie geweint? Oder hat es Sie vielleicht wütend gemacht, wenn Sie Leute in der Kleidung gesehen haben, die damals von Ihrer Kirche vorgeschrieben war?«
Das Telefon klingelt.
»Erinnert Sie das an Ihre Eltern?«
Das Telefon klingelt.
»Macht es Sie wütend, was aus Ihrer Familie geworden ist?«
Das Telefon klingelt.
»Erinnern Sie sich noch an die Zeit vor den Selbstmorden?«
Das Telefon klingelt.
»Wollen Sie nicht rangehen?«, sagt die Sozialarbeiterin.
Gleich. Erst muss ich aber in meinem Terminkalender nachsehen. Ich halte ihr das dicke Buch hin, damit sie die Liste all der Dinge sieht, die ich heute noch zu erledigen habe. Meine Arbeitgeber rufen mich an, weil sie mir ein Bein stellen wollen. Gott behüte, dass ich im Haus bin und ans Telefon gehe, falls ich genau in dieser Minute draußen sein sollte und den Pool reinigen müsste.
Das Telefon klingelt.
Laut Terminkalender müsste ich jetzt die Vorhänge im blauen Gästezimmer dämpfen. Was auch immer das sein soll.
Die Sozialarbeiterin mampft Tortillachips, und ich mache ihr ein Zeichen, dass sie leise sein soll.
Das Telefon klingelt, und ich gehe ran.
Der Lautsprecher schreit: »Was können Sie uns über das Bankett heute Abend sagen?«
Immer mit der Ruhe, sage ich. Nichts Kompliziertes. Lachs ohne
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