Flug 2039
Glanz von den Schuhen. Vor dem Schminkspiegel meiner Arbeitgeberin bohre ich mir mit ihrem Mascarastift in der Nase herum, bis die Nasenhaare schön schwarz und buschig aussehen. Dann nehme ich den Bus.
Das Hilfsprogramm für Überlebende stellt einem auch kostenlose Monatskarten für den Bus zur Verfügung. Hinten drauf ist gestempelt: Eigentum des Sozialamts.
Nicht übertragbar.
Auf der Fahrt zum Mausoleum sage ich mir immer wieder, dass es mir scheißegal ist, ob Fertility kommt oder nicht.
In meinem Kopf spulen sich eine Menge halb vergessener Credistengebete ab. Meine Gedanken sind ein Brei aus alten Gebeten und Anrufungen.
Lass mich ein untertänigster Diener sein.
Jede Arbeit sei mir eine Zier.
Jede Mühe bringt mich der Erlösung näher.
Lass meinen Schweiß nicht vergebens sein.
Durch meine Werke will ich die Welt erretten.
In Wirklichkeit denke ich: O bitte, o bitte, o bitte, mach, dass Fertility Hollis heute Nachmittag da ist.
In der Eingangshalle des Mausoleums läuft die übliche billige Reproduktion von eigentlich schöner Musik, damit man sich nicht so einsam fühlt. Es sind immer dieselben zehn Lieder, aber nur die Musik, ohne Gesang. Die werden aber nur an bestimmten Tagen gespielt. In einigen der alten Galerien im Lauterkeitsund Neue-Hoffnung-Flügel wird überhaupt nie Musik gespielt. Man nimmt sie ohnehin auch sonst nur wahr, wenn man genau hinhört.
Musik als Tapete, als Gebrauchsgegenstand, als ein Mittel wie Fluoxetin oder Alprazolam, das die Gefühle kontrollieren soll. Musik als Raumspray zur Luftverbesserung.
Ich gehe durch den Heiterkeits-Flügel: Von Fertility ist nichts zu sehen. Ich gehe durch den Glaubens-, den Freude- und den Gelassenheits-Flügel, aber auch dort ist sie nicht. Ich klaue aus einer Grabnische ein paar Plastikrosen, um nicht mit leeren Händen dazustehen.
Mich überkommen schon Hass, Zorn, Angst und Resignation, aber dann, vor Grabnische 678 im Zufriedenheits-Flügel, erblicke ich Fertility Hollis mitsamt ihrem roten Haar. Nachdem ich bei ihr angekommen bin, wartet sie zweihundertundvierzig Sekunden, erst dann dreht sie sich um und sagt hallo.
Ausgeschlossen, dass sie dieselbe ist, die mir am Telefon einen Orgasmus ins Ohr geschrien hat.
Ich sage: Hallo.
Sie hält einen Strauß falscher Orangenblüten in den Händen, recht hübsch, aber nichts, was ich stehlen würde. Ihr heutiges Kleid ist aus einem Brokatstoff jener Art, aus der man auch Vorhänge macht, weiß mit weißem Muster. Es wirkt steif und schwer entflammbar. Flecken abweisend. Knitterfest. Bescheiden wie eine Brautmutter in ihrem Faltenrock und der langärmligen Bluse, sagt sie: »Fehlt er Ihnen auch so sehr?«
Ihre gesamte Erscheinung wirkt märtyrerfest.
Ich frage: Er? Wer?
»Trevor«, sagt sie. Sie steht barfuß auf dem Steinfußboden.
Ach so, Trevor, sage ich zu mir selbst. Mein heimlicher sodomitischer Geliebter. Hatte ich glatt vergessen.
Ich sage: Ja, mir fehlt er auch.
Ihre Haare sehen aus wie Heu, auf einer Wiese zusammengeharkt und zum Trocknen aufgehäuft. »Hat er Ihnen mal von der Kreuzfahrt erzählt, auf die er mich mitgenommen hat?«
Nein.
»Das war total illegal.«
Sie blickt von der Grabnische Nummer 678 zur Decke auf, von der aus kleinen Lautsprechern neben den gemalten Wolken und Engeln die Musik herniederrieselt.
»Als Erstes musste ich mit ihm in die Tanzschule. Dort haben wir Tänze wie Cha-Cha-Cha und Foxtrott gelernt. Rumba und Swing. Und Walzer. Walzer war einfach.«
Über uns spielen die Engel ihre Musik; sie scheinen Fertility Hollis etwas zu erzählen, weshalb sie eine Minute lang zuhört.
»Hier«, sagt sie und dreht sich zu mir um. Sie nimmt meine und ihre Blumen und legt sie an die Wand. »Sie können doch Walzer tanzen?«, fragt sie mich.
Falsch.
»Das ist ja nicht zu glauben: Sie kennen Trevor und wissen nicht, wie man Walzer tanzt«, sagt sie und schüttelt den Kopf.
In Gedanken sieht sie wohl Trevor und mich zusammen tanzen. Zusammen lachen. Analverkehr treiben. Das ist das Handicap, mit dem ich es zu tun habe, das und die Vorstellung, dass ich ihren Bruder getötet habe.
»Breiten Sie die Arme aus«, sagt sie.
Ich tue, wie mir geheißen.
Sie stellt sich ganz dicht vor mich und legt mir eine Hand in den Nacken. Mit der anderen nimmt sie meine Hand und streckt sie weit von uns weg. »Legen Sie mir Ihre anderen Hand auf den BH«, sagt sie.
Ich tue das.
»Auf meinem Rücken!«, sagt sie und dreht sich von mir weg. »Legen Sie die
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