Flug des Adlers
die Straßen vor langer Zeit ausgesehen haben mochten, angefüllt mit Autos und Lastwagen, deren zertrümmerte Überreste nun Barrieren zwischen den verschiedenen Zonen Seattles bildeten. Heute waren nur Fahrradfahrer und ein paar Rollerfahrer unterwegs, die den Rauchwolken ausstoßenden Militärlastern, den mit Biobenzin betriebenen Bussen und dann und wann einem glänzend polierten SUV auswichen.
Zunächst hatte er seinen Plan in äußerst groben Umrissen zwei skeptischen Adjutanten vorgelegt, die mit jedem Wort, das er sprach, mehr Interesse gezeigt hatten. Dann hatte er einen Tag in einem Apartment auf einem Gelände zugebracht, von dem er annahm, dass es zu einem Militärstützpunkt gehörte; DIE LIGA BELLEVUE IST DIE ERSTE UND DIE GRÖSSTE stand auf einem Banner, das über einem Sportplatz hing, der von seinem schmutzigen Fenster aus gerade noch zu sehen war. Später erklärte man ihm, er müsse mit der Regionalen Sicherheitsgruppe des Generaldirektors Silas sprechen. Zu diesem Zweck gab man ihm Seife und Rasierer, schickte ein Mädchen zur Pflege seiner Haare und Fingernägel und ließ ihm einen Nachmittag Zeit, seinen Plan zu präsentieren.
Mit einem Motorrad mit geschlossenem Beiwagen, der nach Schweiß und Tabak roch, wurde er zur Space Needle gefahren. Eine Kaltfront hatte sich über Seattle festgesetzt, und der übliche Regen war am Vorabend in Schneeregen übergegangen, was am heutigen Tag noch früher zu erwarten war. Von der Straße aus konnte Valentine den Fürstenturm, wie er genannt wurde, genauer erkennen, und ihm gefiel nicht, was er sah.
Fünf mächtige, blaugrüne Achsen, angeordnet wie die Punkte auf einem Würfel, erhoben sich senkrecht aus dem Boden, als wären sie Wassersäulen eines Springbrunnens, in dem die Zeit stehengeblieben war. Weit über den höchsten Gebäuden der Stadt breitete sich aus, was Valentine als kurische Zellen betrachtete. Sie sahen aus wie Weichtiere oder Rankenfüßer, die sich an Pfeiler klammerten, nicht wie die an Eiersäcke von Spinnen erinnernden Globen, die er im Landesinneren gesehen hatte. Und über allem anderen thronte wie ein riesiger Pilzhut die Kuppel, in der Seattle persönlich residierte. Valentine glaubte, Bäume dort oben zu sehen, konnte aber nicht sicher sagen, ob die grünen Flecken von Pflanzen stammten oder nur irgendein sonderbares Element der Kurarchitektur darstellten.
»Das zu bauen, muss eine Menge Zeit gekostet haben«, sagte Valentine, als sie neben der Space Needle anhielten und der Fahrer sein Verdeck öffnete.
Der Fahrer zuckte mit den Schultern. »Mein Dad kannte einen Mann aus der Liga, die daran gearbeitet hat. Als die Fundamente standen, haben sie die Pfeiler aufgebaut. Der einzige Stahl in dem Ding besteht, soweit ich weiß, aus den Überresten des Baugerüsts.«
Der Fahrer sprach mit einigen Militärattachés und überließ Valentine der Obhut eines der Attachés, der ihn in einem Fahrstuhl hinauf in die Space Needle brachte.
Kleinere Erdbebenschäden waren geflickt und übermalt worden, aber davon abgesehen sah das Bauwerk aus, als hätte die Weltausstellung, zu der es errichtet worden war, gerade erst stattgefunden.
In einem Wartebereich zur Untätigkeit verdammt, leerte Valentine einen Becher des besten Kaffees, den er seit seiner letzten Reise nach Jamaika genossen hatte. Fotos von Post-’22-Bauprojekten und der Victory-5, einem extrem verbrauchsgünstigen und leichten Überwachungsbomber, produziert von den Boeing-Werken, schmückten den Warteraum. Auf einer Karte waren die Spezifikationen des Flugzeugs aufgeführt. Seine Formgebung erinnerte Valentine ein wenig an die Gleiter, mit denen er in Yuma geübt hatte, breite, flache Tragflächen mit kleinen Stabilisatoren an den Spitzen, aber mit einem schwereren Rumpf und Propellertriebwerken.
Er hörte ein paar Technikern zu, die eine Kaffeepause dazu nutzten, sich über den Zustand der Kanalisation zu beklagen. Seattle hatte nur noch ein Drittel der Bevölkerung von vor 2022, und da die verbliebenen Menschen nicht genug Abwasser produzierten, um die Kanalisation auszulasten, wurden große Teile abgesperrt und das Wasser in die noch in Funktion befindlichen Teile und kleinere Rohre umgeleitet.
»So, wie die geizen, könnte man meinen, es geht nicht um PVC, sondern um pures Gold«, sagte einer und nippte an seinem Kaffee.
»Die Scheiße ist jedenfalls Gold wert. Der Energiesektor will sie für die Herstellung von Biokraftstoff. Die Fischer wollen sie als Köder. Die
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