Flug ins Feuer
Und sein neuerliches Lächeln war ein herzzerreißend trauriges Lächeln. »Sehr kompliziert.«
10
Als die Morgenröte den Himmel, die Wälder, die Bergspitzen und den über allem liegenden Rauch rot und orange färbte, betrat Nina das kleine, aber sehr gepflegte Haus, das sie mit ihrem Vater teilte, als dieser gerade gehen wollte.
Tom kratzte sich den Kopf und musterte seine heiß geliebte einzige Tochter. »Ich habe deinen Zettel gefunden. Was heißt das, dass du mit Lyndie nach Hause fahren möchtest? Lyndie ist zu Hause.«
»Nein, das ist nur ein vorübergehender Aufenthalt für sie.« Sie standen in dem gefliesten Flur, den ihr Großgroßonkel verlegt hatte. Die Stukkatur an den Wänden hatte bereits zwei Jahrhunderte überdauert, und die aufgereihten Buchregale waren ziemlich verstaubt. Sie blickte sich um und schnaubte angewidert. »In diesen verdammten Bergen gibt es so viel Staub, dass er sich für immer in meinen Poren festgesetzt hat.«
»In anderen Städten gibt es auch Staub, Nina. Und sogar in den Staaten.«
»Ja, nun ja, vermutlich ist es saubererer Staub. Und dies ist nicht Lyndies Zuhause. Sie liebt uns, sehr sogar, aber San Puebla ist nicht ihr Zuhause.«
»Sie ist hier zu Hause«, bestand Tom auf seiner Meinung, weil er wollte, dass es so war. Er wollte, dass jeder hier so glücklich war wie er selbst. »Ihr gehört jetzt das Haus nebenan, ist es nicht so?«
»Ja, weil Rosa sonst pleitegegangen wäre. Aber du und ich wissen beide, dass Lyndies wirkliches Zuhause die Luft ist. Sie ist überall dort zu Hause, wo es sie gerade hintreibt.
« Sie seufzte. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie faszinierend ich diese Art von Freiheit finde?«
Tom spürte, wie ihm das Herz sank. »Du möchtest bestimmt nicht so leben.« Bitte, lieber Gott, lass sie nicht so leben wollen.
» Papa, ich habe es dir schon früher gesagt, ich möchte nicht hier leben. Du hörst mir nicht zu.«
Gott möge ihm helfen, er hatte es ignoriert, hatte geglaubt, dass sie nach und nach das Bedürfnis danach verlieren würde. Aber sie hatte noch nie so entschlossen geklungen wie jetzt, noch nie.
Sie ähnelte ihrer Mutter so sehr, hatte einen so unglaublich starken Willen in ihren stolzen Adern. Maria war von dem Moment an sein ganzes Herz, seine Seele gewesen, wo er den Fuß in diese entlegenen, zerklüfteten Hügel gesetzt hatte. Genau genommen hatte er sich zuerst im Delirium befunden, als er bei einem Angeltrip hier durchgekommen und wegen einer schrecklichen Grippe zusammengebrochen war.
Maria hatte sich um ihn gekümmert, hatte ihn tagelang gepflegt und verwöhnt, und als er wieder gesund war, war er schwer in sie verliebt. Gott sei Dank hatte es auf Gegenseitigkeit beruht. Er war gern geblieben, liebte das weite, offene Land, das geruhsame Leben, das Gefühl stillstehender Zeit. Sie hatten geheiratet, einige wunderbare gemeinsame Jahre verbracht und sich geradezu schmerzlich geliebt. Und dann hatte sie ihm tragischerweise seine heiß geliebte Tochter geschenkt und dabei ihr eigenes Leben gelassen.
Sogar jetzt noch drohte ihn die Erinnerung daran beinahe zu ersticken. Er hatte im Krankenhaus dagestanden, seine neugeborene Nina im Arm gehalten und einfach nicht
begreifen können, was der Arzt ihm erzählte. Er hatte ein Baby bekommen und seine Ehefrau verloren.
Über die Jahre hatte er sich mit dem Verlust arrangiert, und obgleich er Maria immer noch schrecklich vermisste, hatte er Nina.
Und jetzt wollte sie ihn ebenfalls verlassen.
»Sieh mich nicht so an«, flüsterte sie. »Du brichst mir das Herz, Papa, du bist meine Familie, du bist alles für mich, aber ich... ich brauche mehr.«
»Was? Was ist es, was du brauchst? Sag es mir.«
»Das ist es ja gerade! Ich weiß es nicht, nicht bevor ich hier herauskomme und mein eigenes Leben beginnt.« Sie umfasste sein Gesicht, küsste ihn auf beide Wangen. »Du bist aus eigenem Antrieb hierher gekommen, da warst du noch jünger als ich jetzt. Deine Eltern haben dich nicht aufgehalten. Deine Freunde haben dich nicht aufgehalten. Jetzt lass mich dasselbe tun.«
»Meine Eltern, alle meine Verwandten sind inzwischen nicht mehr am Leben. Da drüben gibt es keinen Menschen für dich.«
»Das ist mir egal. Hier war auch niemand für dich.«
»Deine Mutter.«
»Aber das wusstest du nicht, als du zum ersten Mal hierhergekommen bist.«
Er starrte sie lange an, fragte sich, wie er sie erreichen konnte, wie er sie glücklich machen konnte. »Du weißt einfach nicht, wie es in
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