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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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majestätische Grammatik ein und nenne sie »ihr« oder »sie«, dann hageln ihre strengen Fragen: Wer sind »sie«? Wen meinst du konkret? Warum sagst du »ihr« und nicht »wir«? Von wem distanzierst du dich?
    Ein für allemal sage ich das: Wer von sich in der Mehrzahl spricht, muß mir gestatten, ihn in der Mehrzahl zu nennen. Wer ein »wir« ist, muß auch ein »ihr« sein oder ein »sie«. Und wenn sie ihre Meinung unerlaubt zu der meinen machen wollen, wenn sie mich ohne mein Einverständnis in ihr »wir« einsaugen wollen, werde ich zu mir »ich« sagen und zu ihnen »sie«.
    Vielleicht trennen mich nur einige Jahre von ihnen, die Jahre, in denen der Un -Mechanismus endgültig einrastet und mir das Un druckbare, das Un aussprechliche, das Un denkbare zur Un wahrheit werden wird, weil ich es so wenig wie die anderen ausgehalten habe, das Bewegendste und das Aufregendste nicht zu schreiben, nicht zu sagen, nicht zu bedenken. Dann sage ich »wir« – »wir haben nicht gekonnt«, weil ich nicht gekonnt habe, und ich werde einen Neuen zurechtweisen, der wieder »ich« sagt und für den ich »sie« bin.
    Ich bin ihnen gar nicht so fern. Ich bin schon unsicher, ob sie nicht recht haben, die Strutzers und die Mesekes. Die Leute in B. haben sich eingerichtet, haben sich gewöhnt, Einwohner von B. zu sein und vom Dreck berieselt zu werden. Vielleicht ist es nichts als grob und herzlos, ihnen zu sagen: ihr seid vergessen worden, geopfert für Wichtigeres, und ich kann es nicht ändern.
    Aber was ist wichtiger, Luise? Jeder Säugling in B. zahlt seinen Tribut an unseren Wohlstand. Dabei würde ein kleines Kraftwerk genügen, 160 Megawatt nur.
    Ich aber schreibe betroffen statt entsetzt und verstecke die Wahrheit hinter schönen Sätzen.
    Wenn der Kollege Soundso den Beitrag liest (vielleicht liest er ihn, weil es um seine Stadt geht), wird er die Zeitung geringschätzig beiseite legen, den Fernsehapparat einschalten und zu seiner Frau sagen, diese Leute von der Zeitung sollten mal alle eine Weile hier leben, dann vergingen ihnen ihre Sprüche schon. Dabei hätte die, die das geschrieben hat, ganz schön blaß ausgesehen, als sie aus dem Kraftwerk kam. »Aber Papier ist geduldig«, wird er noch sagen, und seine Frau wird ihm recht geben.
    Wem nützen unsere Schwindeleien, Luise? Glaubst du, der Kollege Soundso ließe sich von uns einreden, es sei so unerträglich gar nicht in seiner Stadt? Meinst du, er denkt nicht nach über die ungebauten Kraftwerke und verworfenen Konzeptionen, weil wir nicht von ihnen sprechen?
    Oder glaubt jemand, 180 Tonnen Flugasche wögen auf Zeitungspapier schwerer als auf der eigenen Haut?
    Stell dir vor, Luise, Christians Falle schnappte zu und ich schriebe zwei Beiträge: einen, wie es wirklich war, und einen, der gedruckt werden kann. Und du müßtest entscheiden. Bestimmt wärst du wütend, weil ich dir wieder einmal den Schwarzen Peter zugespielt hätte. So, wie du dich früher geärgert hast über die Sätze, die ich nur geschrieben habe, damit du sie streichen mußtest. Du hast sie immer gefunden, und sie haben dir immer gefallen, und du warst wütend, weil ich dich in die Rolle des Zensors gedrängt habe. Wenn du aber durch mich gezwungen wärst, von zwei Reportagen die schlechtere zu wählen, Luise, ich wüßte nicht, gegen wen dein Zorn sich richten würde. Vielleicht gegen mich, denn ich hätte die Situation geschaffen. Vielleicht aber auch gegen andere, die nicht zulassen, daß wir den Dreck einer Stadt in der Zeitung ausbreiten. Du könntest den Schwarzen Peter auch weiterreichen, an Rudi Goldammer. Dann wärst du deine Rolle als Rausschmeißer los, und einen Skandal brauchtest du auch nicht zu fürchten, denn auf Rudi Goldammers Zaghaftigkeit ist Verlaß.
    Ich bin ungerecht. Ich lasse ihr keine ehrenhafte Variante, und das hat sie nicht verdient. Luise zieht sich nicht aus Affären. Und es ist sinnlos, Luises Verhalten berechnen zu wollen. Zu oft haben sich meine sicheren Erwartungen in ihr Verhalten als Irrtümer erwiesen. Nicht, daß sie immer toleranter oder gütiger reagiert hätte, als ich angenommen habe, ganz und gar nicht, aber anders, so, wie es mir bei allen Spekulationen eben nicht eingefallen war. Inzwischen ist es für mich fast ein Spiel, mir alle möglichen Reaktionen auszudenken, die schlimmsten zuerst, um sie auszuschließen. Denn wie gesagt: Luise ist nicht berechenbar, was nicht heißt, sie sei unberechenbar. In einer Sache habe ich mich bisher nie geirrt:

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