Flugasche
hast es geschafft, ich bin bei Variante eins.«
Christian rutscht ein Stück tiefer in seinen Sessel, schlägt die Beine übereinander, die grauen Kieselaugen leuchten, nur einen Moment und nicht triumphierend, nur froh. Er sieht müde aus. Solange wir uns kennen, war Christian der Vernünftigere, der immer um ein paar Jahre erwachsener war als ich. Ich war daran gewöhnt, ihm den größten Teil der Verantwortung für unsere Freundschaft zu überlassen. Hin und wieder hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich wußte, daß Christian sich nicht wehren würde, auch wenn ich ihn überforderte. Aber ich nahm ihn an als etwas Sicheres, Schönes, das es für mich auf der Welt gab. Vergleichbar mit einer Mutter oder einem großen Bruder. Zu Beginn unserer Freundschaft ging dieses Gefühl der Geborgenheit nur mittelbar von Christian aus. Mich faszinierte die intellektuelle, kultivierte Atmosphäre des Grellmannschen Haushalts. Und ich verehrte Christians Vater, ein Gefühl, das ich für Werner Grellmann bis heute empfinde. Als ich ihn kennenlernte, war er vierzig Jahre alt. In meiner Erinnerung hat er sich seither wenig verändert. Damals erschien mir ein Vierzigjähriger älter als heute ein Fünfundfünfzigjähriger, da ich das Altern als eigene Perspektive noch nicht in Erwägung zog.
Das war gegen Ende der fünfziger Jahre. Zwei Jahre zuvor noch hielt Professor Werner Grellmann an der Philosophischen Fakultät Vorlesungen, die immer überfüllt waren, obwohl der größte Teil der Studenten nur die Hälfte verstand, wenn der Marxist Grellmann Sartre und Kierkegaard sezierte, mit der eleganten Grobheit des sicheren Chirurgen, aber nicht ohne den unabdingbaren Respekt des Wissenschaftlers vor der fremden Denkleistung.
Es war wohl der gleiche Respekt vor den Gedanken anderer, der ihn bewog, als einziger nicht seinen Arm zu heben, als der Ausschluß eines jungen Genossen beschlossen wurde, der infolge ständiger Lektüre westlicher dekadenter Literatur erhebliche ideologische Schwächen gezeigt haben sollte. Werner Grellmann wurde deshalb nicht aus der Partei ausgeschlossen, aber die Fähigkeit, junge Wissenschaftler zu erziehen, sprach man ihm ab. Er avancierte vom Professor für Philosophie zum Bürgermeister von Wetzin, einem schlammigen Dorf im Oderbruch, aus dem er ein Musterdorf machen sollte. Seine Frau und die drei Söhne, Christian war der älteste, blieben in Berlin. Ruth Grellmann unterbrach die Arbeit an ihrer Dissertation und ernährte die Familie von Schreibarbeiten, denn die fünfhundert Mark, die Werner Grellmann als Bürgermeister verdiente, reichten nicht aus für zwei Haushalte.
Ich versuche mich zu erinnern, ob damals, als ich Werner Grellmann kennenlernte, Spuren von Bitternis an ihm zu finden waren. Ich glaube nicht. Auch in den Bildern aus jener Zeit trägt er für mich die weisen clownesken Züge in dem feinen, sensiblen Gesicht mit den grauen Augen.
An einem der Wochenenden, die ich bei den Grellmanns verbrachte, erzählte uns Werner Grellmann, wie er die Dorfstraße von Wetzin pflastern ließ. Wir saßen um den großen runden Tisch auf alten hochlehnigen Lederstühlen. Es war ein naßkalter Tag kurz vor Weihnachten, das einzige Licht im Zimmer verbreitete der Chanukkaleuchter, der auf dem kleinen Bücherregal rechts neben der Tür stand. Den Leuchter hatte Ruth Grellmann, die vor ihrer Hochzeit Ruth Katzenheimer hieß, als einziges in die Ehe eingebracht. Werner Grellmann, der keine Weihnachtsbäume duldetete, dem alles zutiefst fragwürdig war, das auf irgendeiner Art von Gläubigkeit beruhte, der die schmalen Augenbrauen skeptisch hochzog, sobald sein Gesprächspartner das Wort Glauben bemühte, Werner Grellmann hing an diesem Leuchter auf mir bis heute unerklärliche, fast mystische Weise.
Ruth brühte die dritte oder vierte Kanne Tee, während Werner Grellmann Christian und mir die Geschichte vom Straßenbau in Wetzin erzählte. Im Frühjahr hatte er gesehen, wie seine Wetziner Mühe hatten, ihre Stiefel und Fahrräder aus dem Schlamm zu ziehen, in den tagelanger Regen die Wetziner Dorfstraße verwandelt hatte. Zwar war die Fahrbahn mit grobem Kopfstein gepflastert, aber die Bürgersteige waren nichts als festgetretener Lehmboden, auf dem das Wasser nach heftigen Regengüssen noch tagelang stand. Werner Grellmann, ein leidenschaftlicher Fußgänger und Radfahrer, vor allem aber immer auf die Rechte der Mehrheit bedacht, beschloß: Die Wetziner Bürgersteige werden gepflastert. Ihm fehlte
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