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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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Luise ist ehrlich.
    So viel weiß ich, aber auch nicht mehr, und ich weiß eben nicht, was Luise tatsächlich täte, würde ich Christians idiotischen Vorschlag wahrmachen.
    Zwei Sätze habe ich, immer noch zwei Sätze. Nichts ist mit dem spiegelglatten Wasser aus Fakten und Erlebnissen. Statt dessen Klippe an Klippe.
    Es ist dunkel geworden im Zimmer. Die Sonne ist verschwunden hinter einer gleichmäßigen grauweißen Wolkendecke, die über den Straßen hängt wie ein großes flaches Dach. Es ist Schnee angesagt, der erste Schnee in diesem Jahr. In meinem Kopf formen sich Sätze, sinnlose, unkontrolliert schieben sich Wörter zusammen: … haben wir unter Aufbietung aller Kräfte daran gearbeitet … bleibt uns unter den gegebenen Möglichkeiten keine Wahl … überbringen wir die herzlichsten Glückwünsche zum – wirres, zusammenhangloses Zeug, Floskeln, die irgendwo in meinem Hinterkopf ihren Platz haben und ihn jetzt unaufgefordert verlassen. Es hat keinen Sinn. Ich kann nicht von einem Satz in den anderen stolpern, ohne zu wissen, was ich schreiben will. Aber was soll ich denn wollen? Diese kastrierte Wahrheit vielleicht, diese Kompromisse, auf die wir immer so stolz sind, wenn wir es wagen, öffentlich darüber zu sprechen, daß Schichtarbeit schwer ist, daß irgendwo ein Schulessen noch nicht schmeckt oder daß es hin und wieder noch subjektive Schwächen bei einigen Funktionären gibt. Mein Gott, in welcher Zeit leben wir denn, daß solche belanglosen Feststellungen ausreichen, um zu einem kritischen Geist und zu einem kämpferischen Charakter ernannt zu werden.
    Ich spanne einen neuen Bogen in die Maschine und schreibe: B. ist die schmutzigste Stadt Europas.
    Nur diesen einen Satz, mehr nicht, heute nicht.

III.
    Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren fürchte ich mich, an Christians Tür zu klopfen. Blödsinnig. Was ist denn passiert, wovor wir uns fürchten müßten? Wir waren uns ein Stückchen näher als sonst, unendlich näher. Nichts zum Fürchten also. Und trotzdem das beklemmende Gefühl: Es wird anders sein als vorher. Die Angst vor Erwartungen, seinen und meinen, vor einer neuen Verletzbarkeit, die vertraute Töne nicht mehr zuläßt. Auch die eigene Unsicherheit, welchen Christian ich hier suche – den alten, zuverlässigen Freund oder diesen neuen Christian mit den warmen, kräftigen Händen.
    Oder ich weiß es längst und gebe es nicht zu, weil ich enttäuscht werden könnte. Vielleicht ist es für Christian bei der einen Josefa geblieben, der geschlechtslosen lebenslänglichen Freundin, die ermutigt werden mußte, als sie verzagt war, als sie fror, als Worte nicht ausreichten, als sie fühlen wollte, daß sie lebt. Es fällt schwer, sich selbst der Unredlichkeit zu verdächtigen. Aber ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob es mir nicht ordinär und einfach nur unerträglich wäre, nichts hinterlassen zu haben als die freundliche Erinnerung oder die Möglichkeit zu vergessen.
    Manchmal erschrecke ich, wie wenig ich über mich weiß, wie perfekt der Selbstbetrug eingespielt ist, wie mühevoll nur Lüge und Wahrheit und Scham über die Lüge sich voneinander trennen lassen.
    Wie verzweifelt beschwöre ich zuweilen noch ein ehrenhaftes Motiv, wenn ich mich längst durchschaut habe, wenn ich die Eitelkeit oder die Sucht zu gefallen schon aufgespürt habe in mir. Und will es doch nicht wahrhaben, suche nach einer annehmbaren Auslegung, heische um Verständnis bei mir selbst, ehe ich mich, wenn überhaupt, geschlagen gebe, in den eigenen Abgrund sehe und das Entsetzlichste finde: nicht anders zu sein als andere.
    Aus Christians Wohnung klingt Musik, »… Why don’t we do it in the road …?«, ein Stockwerk tiefer geht eine Tür auf, es riecht nach Sauerkraut. »Aber häng die Wäsche nicht wieder auf Schreibers Leine, sonst regt die sich wieder uff«, ruft eine Frauenstimme. Irgendwer schlurft in Pantoffeln die Treppe rauf.
    Ich klopfe.
    Ehe Christian auch nur Guten Tag sagen kann, erzähle ich irgendwas von einem Stoffladen, in dem ich zufällig gerade war, ganz hier in der Nähe. Frage, ob ich störe, warte die Antwort nicht ab, weil ich keinen fremden Mantel an der Garderobe finde, schimpfe auf das langweilige Stoffangebot. Ich sehe, wie Christian lächelt. »Ist ja gut, hör doch mal auf zu reden«, sagt er und küßt mich auf die Wange, wie immer. Oder nicht wie immer. Er schiebt die Zigaretten über den Tisch.
    »Tee oder Kaffee?«
    »Schnaps.«
    »Was macht deine Reportage?«
    »Du

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