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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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nur das nötige Geld. Zufällig, erzählte er uns, sei er einige Tage nach diesem Entschluß, der das öffentliche Leben Wetzins einschneidend verändern sollte, über den Dorffriedhof gegangen. Ich war sicher, daß dieser Spaziergang auf dem Friedhof kein Zufall war. Werner Grellmann verabscheut Friedhöfe ebenso wie Weihnachtsbäume und verblüffte uns einmal, als wir Friedhofsidylle gegen seine spöttischen pietätlosen Attacken verteidigt hatten, mit der Frage, wo sich eigentlich das Grab von Friedrich Engels befände. In London, vermuteten wir. Und Werner Grellmann lachte vergnügt und listig, blies mit spitzem Mund etwas Imaginäres von seiner Handfläche und sagte: »Da ist es. Im Wind.« Ich bin also sicher, er ist nicht zufällig über den Friedhof gegangen, sondern hat gewußt, was er dort suchte, und hat es auch gefunden. Er hatte auf das ländliche Traditionsbewußtsein und die bäuerische Trägheit spekuliert, die er in Gestalt kostbarer uralter Marmorsteine auf dem Wetziner Friedhof fand. Das Recht auf Grabstätten verjährt nach dreißig Jahren, erfuhr Werner Grellmann von dem Finanzverantwortlichen des Dorfes, einem schlauen, mit allen Wetziner Regenwassern gewaschenen Mann. Mit seiner nächsten Maßnahme setzte Werner Grellmann auf den Geiz seiner Wetziner, die seit eh und je arme Leute waren. Er veröffentlichte eine Annonce in der Kreiszeitung: »Wer Anspruch erhebt auf den Fortbestand der Ruhestätten seiner Anverwandten, zahlt bitte bis zum Letzten des Monats die Miete für die nächsten dreißig Jahre. Anderenfalls wird die Grabstätte eingeebnet. Für den Abtransport der Steine sind die Verwandten verantwortlich. Kommen diese ihren Pflichten nicht nach, sieht sich die Gemeinde gezwungen, die Abfuhr der Steine selbst vorzunehmen. Unterschrift: Der Bürgermeister.« Wenn der Bürgermeister die Steine nicht haben will, dann soll er sie man auch selbst wegschleppen, werden die Bauern gedacht haben, und Werner Grellmann unternahm einen zweiten Spaziergang über den Friedhof, diesmal in Begleitung des Steinmetzes, der den Wert der Steine schätzen sollte. Mit der Schätzsumme des Wetziner Steinmetzes fuhr der ungläubige Werner Grellmann in die Bezirkshauptstadt, lud auch den dort ansässigen Steinmetz zu einem Friedhofsspaziergang ein. Der verdoppelte das Angebot. Diese Summe teilte Werner Grellmann nun wieder dem Wetziner Steinmetz mit, und ich weiß heute nicht mehr, wie viele Steinmetze er noch über den Friedhof führte, ehe ihm das Gebot ausreichend erschien. Wetzin jedenfalls bekam gepflasterte Bürgersteige, die für mich inzwischen zum Inbegriff nützlicher, wahrhaft atheistischer Denkmäler geworden sind. – Dieser trübe vorweihnachtliche Nachmittag bei Grellmanns ist mir deutlicher in Erinnerung als alle anderen. An dem Tag wurde mir bewußt, daß ich Christian um seine Familie beneidete, wenn sich dieses Gefühl auch mischte mit der Dankbarkeit, teilhaben zu dürfen an einer Gemeinsamkeit, die mehr war als bloßer Familiensinn, wie ich ihn kannte.
    Später, als Werner Grellmann wieder wissenschaftlich arbeiten durfte, zog die Familie nach Halle. Seitdem habe ich Werner und Ruth Grellmann nur einmal wiedergesehen. Aber die Freundschaft zu Christian blieb immer verbunden mit dem Gefühl intellektueller Geborgenheit, das ich im Haus seiner Eltern kennengelernt hatte.
    Christian schweigt. Er spielt mit einem Blatt Papier, faltet es kunstvoll, glättet es wieder, zerknüllt es langsam. Nein, es ist nicht wie vorher, und es ist auch nicht anders. Nur beklemmende Unsicherheit statt unbekümmerter Vertrautheit. Vielleicht würde ein Satz ausreichen, um den alten Ton wiederzufinden; oder einen neuen. »Bleibst du hier?« Christian sieht mich an, blaß und müde, graue Augen unter schmalen Brauen, kein Funken von Spott darin.
    Ich fürchte, was immer ich antworte, ist falsch. Was suche ich hier und wen? Plötzlich ist Nähe wieder unvorstellbar, trotzdem der Wunsch zu bleiben, hier zu bleiben, wo ich bekannt bin, wo ich mich nicht immer aufs neue erklären muß. Dann wieder die Angst, ein Vierbeiner zu sein, der Gedanke an den Milchautomorgen, an die Abende mit Werner Grellmann, wenn er seine Wetziner Geschichten erzählte, Kindheitserinnerungen, Christian, mein Bruder.
    »Nein, ich weiß nicht, heute nicht.«
    Ich will nach Hause.

    Die Platzordnung während der Redaktionssitzungen wird streng eingehalten, und obwohl ich zu spät komme, ist mein Platz neben Luise noch frei. Rechts von ihr sitzt

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