Flugasche
Günter Rassow, ein hagerer, kränklicher Mann, der, obwohl erst etwas über vierzig, in der gebeugten Haltung eines Greises läuft, wobei er sich mittels kleiner tapsiger Schritte vorwärtsbewegt, so, als würde er jeweils von einem Fuß auf den anderen fallen. Hin und wieder verfügt er über den skurrilen Humor eines alten Engländers. Während die dicke Elli Meseke sich mit mütterlicher Stimme gerade müht, die neueste Ausgabe der Illustrierten Woche einzuschätzen, schiebt Günter Rassow Luise die Zeitung zu, in der er mit Rotstift zwei Zeilen unterstrichen hat. »Hast du das gelesen?« fragt er leise, die Empörung in der Stimme nur mühsam gedämpft. ›Wie Frankfurter Eisenbahner dem Frost das Spiel versalzen‹, stand da. Günter leidet unter solchem Mißbrauch der Sprache fast physisch. Siegfried Strutzer als einziger Vertreter der Chefredaktion sitzt am Präsidiumstisch und klopft energisch mit dem Bleistift auf den Tisch. Luise senkt ihr grauhaariges Haupt schuldbewußt wie ein Schulmädchen, das beim Schwatzen ertappt wurde. »Wo ist Rudi?« – »Rudi hat Zahnweh, der kommt nicht«, flüstert Luise und verzieht dabei ihr Gesicht, als müsse sie ein lautes Lachen unterdrücken.
Rudi Goldammers Wehleidigkeit ist bekannt, wird von den meisten belächelt, aber kaum verübelt. Als ich Rudi Goldammers Geschichte erfuhr, konnte ich mir kaum vorstellen, wie dieser zierliche Mann mit dem weichen Gesicht, das durch die traurigen Augen und den vergrämten Zug um den Mund bestimmt wird, elf Jahre Konzentrationslager überstanden hatte. Er war neunzehn, als er verhaftet wurde, und als er mit dreißig wieder nach Hause kam, hatte er ein schwaches Herz, einen kranken Magen und konnte keine Nacht mehr schlafen. Mit siebzehn hatte er sich in ein Mädchen verliebt, das er aus der Arbeitersportbewegung kannte. Zwei Jahre nach seiner Verhaftung heiratete sie einen SA-Mann, nach dem Krieg ließ sie sich scheiden, kam mit ihrer Tochter zu Rudi Goldammer, und Rudi, der, als sei er plötzlich erwacht, mit naivem Staunen seine Jugend suchte, die er hinter Stacheldraht verloren hatte, heiratete sie. Es ist eine merkwürdig schweigsame Ehe geworden, und Luise, die Rudi Goldammer zuweilen besucht, spricht von der Frau nie ohne eine Spur von mitleidigem Abscheu.
Rudi hat sich über die Katastrophen seines Lebens hinweg ein feinfühliges Verständnis für andere bewahrt und eine Güte, die die Grenze zur Schwäche oft überschreitet. Als sei das Maß an Schmerz und Bösem voll, das er in seinem Leben zu ertragen fähig war, war er außerstande, Schmerzen oder Böses zuzufügen. Alles Gründe, Rudi zu lieben, für den Chefredakteur der Illustrierten Woche aber verhängnisvolle Eigenschaften, deren Konsequenzen Rudi Goldammer sich immer wieder durch Magenkrämpfe oder Zahnweh entzieht.
Dumpfes Geraune quillt aus der versammelten Runde. Offenbar ist man nicht einverstanden mit Elli Mesekes zufriedener Feststellung, die Kolumne sei diesmal besonders leserfreundlich, der Illustrierten Woche gemäß, und sie stünde uns gut zu Gesicht – stereotype Floskeln, die mit Sicherheit auf jeder Sitzung zu hören sind. Es erstaunt mich immer wieder, wie ein Mensch sie noch aussprechen kann, ohne zu lachen, wenigstens zu lächeln.
»Zur Diskussion später.« Siegfried Strutzer läßt seinen Bleistift klopfen. Sooft Rudi Goldammer unter Zahnweh oder Magenschmerzen leidet, amtiert Siegfried Strutzer, und fast immer zieht er dann ins Zimmer des Chefredakteurs. Angeblich, weil das Telefon besetzt sein muß. Eine scheinheilige Ausrede, denn die Anschlüsse von Rudi und Siegfried Strutzer laufen über das gleiche Sekretariat, und seinen direkten Apparat benutzt Rudi ausschließlich für private Gespräche.
»Paß auf, jetzt bist du dran«, flüstert Luise.
»… Reportage von Josefa Nadler«, hörte ich Elli Mesekes mütterliche Stimme und zucke zusammen wie immer, wenn mein Name öffentlich genannt wird, ein eingeschliffenes Gefühl aus der Schulzeit, wo ich gelernt habe, vor meinem eigenen Namen zu erschrecken. Josefa Nadler, schwatz nicht!
… Josefa Nadler, kipple nicht mit dem Stuhl! … Josefa Nadler, warum kommst du zu spät!
»Josefa Nadler gibt mit ihrem Beitrag über das Berliner Stadtzentrum eine treffende Schilderung hauptstädtischer Atmosphäre«, sagt Elli Meseke und unterstreicht die Bedeutung ihrer Worte, indem sie langsam und gedehnt spricht, als müsse sie jedes einzelne Wort erst suchen. Sie hätte sich gefreut über den
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