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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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Wiener Kaffeehaus sitzen, Mokka trinken und Schlagsahne essen, Zeitungen und Gedichte lesen, Geschichten anhören, die Bekannte erzählen, und ab und zu dazwischenrufen: »Das freut mich, Franzl«, oder »Das ist schön für dich, Josef«. Rudi gefiel ihr, auch, weil sie ihm gefiel. Seine kindliche Offenheit rührte sie. Aber heute verstand sie nicht mehr, warum sie sich nicht schon damals gefragt hatte, wie Rudi mit seiner Naivität eine Zeitung regieren konnte, deren Schlagzeilen sich nur durch den besseren Stil von denen der übrigen Zeitungen unterschieden.
    Was änderte es, wenn Luise den magenkranken oder unter Zahnschmerz leidenden Rudi anbrüllte. Vielleicht weinte Rudi dann. Der Verdacht, Rudi könnte zu Hause heimlich weinen, kam Josefa oft. Alte Menschen sehen häßlich aus, wenn sie weinen.
    Josefa wählte noch einmal Luises Nummer. Jetzt war die Leitung frei.

    Luise hatte die Fenster in ihrem Zimmer weit geöffnet. »Wo warst du denn solange?« fragte sie ärgerlich. Zum Glück hatte sie den Kaffee vergessen. Josefa hatte inzwischen beide Tassen getrunken.
    »Er hat es gelesen«, sagte Luise.
    »Und was sagt er?«
    »Daß er es nicht gelesen hat.«
    Wenn Luise wütend war, bekam sie rote Flecken am Hals. Ihr Hals war scharlachrot. »Ich hab gesagt, daß ich ihm das Manuskript schicke. Aber dem armen Mann geht es so schlecht, daß er nicht mal lesen kann. Dem wachsen die Magengeschwüre auf den Augen.«
    Josefa war müde. Sie fühlte sich nicht wohl. Im Bett liegen. Jemand kocht ihr Kamillentee und grüne Götterspeise. Sie ist für nichts zuständig, nicht für B., nicht für das Kind. Josefa verstand Rudi. Nur Leute wie Strutzer konnten ohne Krankheiten auskommen.
    »Du guckst schon wieder wie die heilige Johanna auf dem Scheiterhaufen«, sagte Luise. »Hol uns mal Kaffee.«
    Die Kantine war voll. Die Kantine war immer voll. Es gab fünf Kantinen im Haus, und alle waren immer voll.

    Ausgerechnet heute schien in B. die Sonne. Ein Indiz gegen die Wahrheit. In B. scheint keine Sonne. Es kommt vor, daß mattes gelbes Licht sich durch den Nebel quält, wie durch Milchglas. Aber heute schien die Sonne. Die weiße kleine Kugel stand sichtbar am Himmel. Ein kräftiger Nordostwind trieb den Nebel aus der Stadt. Fast immer wehte der Wind aus der entgegengesetzten Richtung, und die Stadt lag im Windschatten des Werkes.
    Alfred Thal saß krumm, noch unscheinbarer als ohnehin, an seinem Schreibtisch und las Josefas Beitrag. Er las langsam. Josefa sah, wie seine traurigen Augen hin und wieder suchend das Papier abtasteten, bis sie den Satz oder Absatz fanden, den Alfred Thal zum zweiten Mal lesen wollte. Die Sonne spiegelte sich in der Schreibtischplatte. Josefa trank von dem Orangensaft, den die Sekretärin aus dem Kühlschrank des Generaldirektors für sie geholt hatte, als sie um ein Glas Wasser gebeten hatte. In Thals Gesicht war nichts zu erkennen, das auf seine Zustimmung oder Ablehnung hätte schließen lassen. Im Nebenzimmer entzog die Sekretärin dem Generaldirektor das Wort, indem sie das Diktiergerät abschaltete. Alfred Thal blätterte um.
    »Hodriwitzka ist tot«, sagte er.
    Josefa spürte, wie sich ihre Mundwinkel zu einem nervösen Grinsen verzogen. Immer, wenn sie vom Tod eines Menschen hörte, den sie kannte, mußte sie so grinsen. »Verzeihung«, sagte sie. Alfred Thal nickte. »Ein Unfall«, sagte er. »Dieses Scheißkraftwerk«, sagte Josefa. »Nicht im Kraftwerk«, sagte Thal, »hier auf der Straße. Er ist überfahren worden. Eine Woche, nachdem Sie hier waren, ist es passiert. Vorgestern war die Beisetzung. Er war selbst schuld. Wollte auf dem Fahrrad links abbiegen und hat nicht gewinkt. Ist direkt vor den Bus gefahren und war gleich tot.«
    Hodriwitzka mit dem viereckigen Schädel und den viereckigen Händen war tot. Als Josefa Luise die Geschichte mit Hodriwitzka erzählt hatte, lag er also auf einer Bahre, oder in einem Kasten, vor der Verwesung verwahrt, bis er an die Reihe kam, mit dem zu Grabe getragen zu werden, bis die Formalitäten erledigt waren, der Redner bestellt und die Musik. Lag tot in einem Kasten, mit sauberen Händen, und war schuld. Hatte in einer Stadt gelebt, in der die Leute fünfmal häufiger Bronchitis haben als anderswo, in der Kirschblüten über Nacht an den Zweigen verdorren, weil ein giftiger Wind durch sie gefahren ist, hatte in einem Kraftwerk gearbeitet, in dem das Wort Sicherheit nicht erwähnt werden darf, und starb schuldig unter einem Bus.
    Woher wollte

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