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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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Pressereferenten Hilfe, die dolle Schote damals abgezogen habe, die Josefa ja bestimmt gelesen hätte. »Sie wundern sich«, sagte Alfred Thal, »aber sehen Sie, der Generaldirektor kriegt den Dreck ab, der Hodriwitzka hat den Dreck abgekriegt, und ich kriege ihn auch ab. Das Zeug aus den Schornsteinen ist respektlos und fragt nicht, wem die Blumen gehören, auf die es fällt.« Alfred Thal lachte. Er hielt sich die Hand vor den Mund, um seine braunen Zahnstümpfe vor Josefa zu verbergen. »Unser Generaldirektor ist vom Minister mit einem Presseverbot belegt worden«, sagte er. »Jedes Interview muß genehmigt werden, meistens wird es abgelehnt. Nun ist er froh, wenn sich jemand findet, der das Dilemma mit dem Kraftwerk an die Öffentlichkeit bringt. Neulich hat er getobt wie ein Verrückter, weil eine Truppe vom Fernsehen hier war und nichts anderes gefilmt hat als die neue Schwimmhalle.« Thal verstummte unvermittelt. Ernst und traurig betrachtete er seine nikotingelben Finger, spaltete ein Streichholz und reinigte mit dem dünnen Span seine Fingernägel.
    »Das ist wie verhext«, sagte er, »wir leben hier wie in einem verwunschenen Wald, in den sich niemand traut. Und wenn sich doch mal jemand hierher verirrt, schließt er die Augen, als könne er dem bösen Zauber entgehen, wenn er ihn nicht sieht. Ein Chemiker von uns hat für seine kleine Tochter ein Märchen geschrieben. Darin ist das Kraftwerk ein Drache mit sieben Köpfen, jeder Schornstein ein Kopf. Der Drache hat die Stadt verzaubert. Alle Menschen haben verlernt zu lachen. Und es ist finster in der Stadt, weil die Sonne nur dorthin scheint, wo gelacht wird. Eine ganz traurige Geschichte, bis der Drachentöter kommt, der dem Drachen die Köpfe abschlägt und die Stadt von dem Zauber erlöst. Wir haben das Märchen sogar in der Betriebszeitung gedruckt. Hinterher gab’s mächtigen Knatsch mit der Bezirksleitung.« Thal lachte wieder hinter der vorgehaltenen Hand. »Schreiben Sie nur, wie Sie denken; solange Sie keine Produktionsgeheimnisse verraten, kann uns nicht mehr passieren, als uns schon passiert ist.«
    Die Sonne schien. Der Generaldirektor hatte Presseverbot. Rudi Goldammer hatte Magenschmerzen. Siegfried Strutzer verbot den Beitrag. Hodriwitzka war tot. Der Minister konnte nicht erfahren, daß in B. der Heizer Hodriwitzka gelebt hat, der ihn einladen wollte in einen Kulturraum ohne Präsidium, um mit ihm über die Zukunft von B. zu beraten.
    Denn Hodriwitzka hätte den Brief geschrieben. Josefa beschloß zu glauben, daß er ihn geschrieben hätte. Was hätte ihm passieren können, das ihm noch nicht passiert war. Schuldig unter einem Bus. Josefa trank den Orangensaft des Generaldirektors. Der Chemiker schrieb ein Märchen. Thal schämte sich wegen seiner schlechten Zähne und ging nicht zum Zahnarzt. Josefas Samariterblick in Thals resigniertes Lächeln. Ich bin hier überflüssig, dachte Josefa, ich werde nichts ändern.
    Thal schlug vor, essen zu gehen. Essen sei immer noch das beste für einen deprimierten Magen.
    Die Kantine war schäbig, dunkelgrüne Ölfarbe an den Wänden, abgeschabte, ausgeblichene Wachstuchdecken, ein dreckiger Geruch nach altem Essen, Männer und Frauen in blauen und grauen Kitteln oder Overalls standen in einer zwanzig Meter langen Schlange vor der Essenausgabe. Ihre Gesichter wirkten weiß und grau gepudert, je nach der Farbe des Pulvers, das sie verarbeiteten. Vor Josefa stand ein rothaariger Mann mit einem narbigen Gesicht. In den Vertiefungen der Narben hatte sich grauschwarzer Staub abgelagert. »Graphit«, sagte Thal, »das hat man fürs Leben, das frißt sich in die Haut.« Der Rothaarige drehte sich um, lächelte, zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder nach vorn. Zweimal Bulette mit Bayrisch Kraut. Thal holte Brause. Sie fanden einen Tisch mit zwei Stühlen dicht neben der Toilettentür. Thal schob mit flinken Bewegungen Kartoffeln und Kraut zu kleinen Karos zusammen, ehe er sie auf die Gabel türmte. Seine Zahnstümpfe mümmelten beim Essen. Josefa aß wenig.
    »Meine Älteste fängt im Herbst hier an«, sagte Thal, »als Diplomingenieur. Der Mittlere ist schon im Betrieb, Lehrling im PVC-Betrieb. Die Zwillinge kommen in zwei Jahren. Alle vier bleiben in B.«
    Josefa hatte den Eindruck, Thal war froh darüber.
    »Mit der Frau allein könnte ich es nicht aushalten«, sagte er.
    Josefa kannte Thals Frau nicht. Thal erzählte, wie die Frau am Morgen die Zwillinge angeschrien hatte, weil sie die Milch

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