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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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Thal wissen, daß Hodriwitzka schuld war? Woher wußte er, daß er links abbiegen wollte, wenn er nicht gewinkt hatte? Vielleicht hatte Hodriwitzka nur das Gleichgewicht verloren, weil ihm ein paar Körnchen von den hundertachtzig Tonnen Flugasche in die Augen geflogen waren. Oder er hatte keine Kraft, das Fahrrad mit einer Hand zu lenken, nachdem er mit dem fünf Meter langen Feuerhaken zwanzigmal die Schlacke durch die Roste der Öfen gestoßen hatte. Für Hodriwitzka gab es Chancen genug, an seiner Stadt zu sterben. Er brauchte dazu keinen Bus, der Bus war ein Zufall. Ebensogut hätte es ein undichtes Ventil sein können oder Kohlenmonoxyd oder die alte steile Eisentreppe. Thal war froh darüber, daß es ein Bus war. Nicht im Kraftwerk, auf der Straße. Schuld.
    Siebzehn Jahre lang hatte sich, wenn Hodriwitzka mit dem Fahrrad nach Hause gefahren war, an dieser Ecke Hodriwitzkas linker Arm gehoben wie ein elektronisch gesteuertes Signal. Nur an diesem Tag hatte Hodriwitzkas Gehirn den Befehl nicht erteilt, oder der Arm hatte ihn verweigert. Warum gerade an diesem Tag, eine Woche, nachdem Josefa in B. war?
    Wer wäre schuld, wenn Hodriwitzka auf dem Heimweg in Gedanken den Brief an den Minister geschrieben und nicht gewußt hätte, wie er den Minister ansprechen sollte. »Werter Genosse Minister …« Hodriwitzka war nicht in der Partei, also: »Werter Herr Minister …« Das klang zu vornehm. »Werter Kollege Minister …« Hodriwitzka wäre nicht sicher gewesen, ob der Minister so viel Kollegialität nicht als plump oder anmaßend empfunden hätte. Hodriwitzka hätte sich gewundert, warum ein Arbeiter in einem Arbeiter-und-Bauern-Staat nicht wußte, wie er seinen Minister anreden darf, oder soll, oder muß. Dann die Kurve, beinahe hätte er sie verpaßt, nach links ohne abzuwinken. Schuld. Hodriwitzka? Der Minister? Josefa? Aber warum hätte Hodriwitzka wegen einer lächerlichen Ministeranrede unter einen Bus fahren sollen. Wahrscheinlicher war es, daß Hodriwitzka zu diesem Zeitpunkt den Brief längst vergessen hatte. Auch Josefa hatte nicht einen Augenblick geglaubt, er könnte den Brief tatsächlich schreiben. Sie hatte sich gefürchtet, Hodriwitzka wiederzusehen, sein verlegenes Lächeln bei der Erinnerung an die zehn Minuten, in denen sie einander verstanden hatten, für ihn inzwischen verschwommen im Kohlenruß und im Wasserdampf, während sie sich jenes vage wahrgenommene Einverständnis ins Bewußtsein gerufen hatte, festgenagelt auf Schreibpapier, es seiner Unentschiedenheit beraubt hatte, bis es ein nennbares Einverständnis war. Sie hätten den Brief nicht mehr erwähnt. Hodriwitzka nicht, weil er inzwischen nachgedacht hätte und wüßte, warum er ihn nicht schreiben würde. Josefa nicht, weil sie wußte, daß sie für Hodriwitzka eine Tangente war, die, nachdem sie seinen Kreis berührt hatte, von ihm fortstrebte. Das Tangentendasein war das Übelste an ihrem Beruf. Alles wurde an seiner Peripherie gestreift, und schon in der Berührung bewegte sie sich vom Schnittpunkt fort, ihrer Existenz gemäß.
    Weg, immerzu weg von allem. Hodriwitzka starb unter einem Bus. Sie kam zu Besuch, einmal, zweimal, rieb sich den Dreck aus den Augen und stürzte sich am nächsten Kreis vorbei. Ein Hygieneinspekteur hatte nach seinen Visiten das Recht, die Schaben zu bekämpfen; eine Ärztekommission durfte einige Kurplätze zusätzlich vergeben, der Sicherheitsinspekteur verfügte das Tragen von Tüchern um lange Haare, der Brandschutzinspekteur die Räumung des Notausgangs von Abfällen. Sie war der Demokratieinspekteur. Was durfte sie verfügen, bekämpfen, verschreiben? Einen Brief an den Minister.
    Thal ordnete die Seiten des Manuskripts, ohne aufzusehen. Ein unterdrücktes Lächeln zitterte um seinen Mund.
    »Ist gut«, sagte er.
    »Na und?« fragte Josefa.
    »Nichts. Wenn die Leute Ihnen das so gesagt haben, müssen Sie es so schreiben«, sagte Thal leise, immer noch lächelnd.
    »Aber das mit der Sicherheit …«
    »Stimmt doch, oder nicht?« fragte Thal.
    Natürlich stimmte es. Nur: alle Erfahrungen im Umgang mit Pressereferenten versagten an diesem kleinen Alfred Thal. Pressereferenten waren für gewöhnlich laut, fühlten sich nur ihrem Generaldirektor verpflichtet, verwiesen, Verständnis heuchelnd, auf ihre journalistische Vergangenheit bei der Bezirkspresse, erkundigten sich beiläufig nach diesem oder jenem prominenten Kollegen, mit dem der Pressereferent zusammen studiert hat oder der mit seiner, des

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