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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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verschüttet hatten. »Sie ist zänkisch«, sagte er und sah Josefa an, als solle sie bestätigen, daß Thals Frau zänkisch war. »Sie hat so eine schrille Stimme«, sagte Thal. »Mir macht das nichts mehr, aber sie soll die Jungs nicht so anschrein. Am Sonntag war ich mit den Zwillingen radfahren. Ein schöner Tag. Sie kann nicht radfahren.«
    Josefa gehörte nicht zu den Leuten, die verlegen werden, wenn Fremde ihnen ihre Ehegeschichten erzählen. Sie war neugierig, wie andere dieses Vierbeinerdasein ertrugen, und auf eine gewisse Weise erleichterte es sie, wenn sie erfuhr, daß jemand auf allen vier Beinen humpelte. Tante Idas tränenvolle hellblaue Augen und die Drohungen mit dem einsamen Alter verblaßten vor Alfred Thals Genugtuung über einen gestohlenen Sonntag.
    »Warum lassen Sie sich nicht scheiden?« fragte sie.
    »In zwei Jahren«, antwortete Thal. »In zwei Jahren«, wiederholte er entschlossen, »wenn die Zwillinge aus der Schule kommen.«
    Er kratzte pedantisch die Speisereste auf seinem Teller mit dem Messer zusammen, und seine traurigen Eulenaugen schimmerten verträumt hinter den dicken Brillengläsern. Plötzlich entfuhr ihm ein hämisches, für seine Verhältnisse ungewöhnlich lautes Lachen, bei dem er sein verstümmeltes Gebiß ungeniert entblößte. »Scheidung statt Silberhochzeit«, sagte er. Dann sank er wieder in sich zusammen und schob die letzten, sorgfältig gequetschten Kartoffelreste in den Mund. Er sollte wirklich zum Zahnarzt gehen, dachte Josefa.
    Um sie herum wurde angestanden, gegessen, schmutziges Geschirr abgeräumt. In der rechten Hand den Teller, in der linken einen Apfel, wenn sie Platz suchten. Dann rechts das Messer, links die Gabel, nichts Auffälliges außer einigen Linkshändern. Rechts den schmutzigen Teller, links das Besteck, wenn sie gingen, die graublauen Kittel, die unter Staub verborgenen Gesichter, beklemmende Eintönigkeit.
    Der Rothaarige leuchtete aus einer Gruppe Graugesichtiger, die gerade laut lachte. Großbetriebe erinnerten Josefa an Reservationen. Gewiß, niemand trieb die Leute mit Gewalt hinein oder zwang sie, auf dem ihnen zugewiesenen Terrain zu bleiben, aber waren nicht auch der Zufall ihrer Herkunft, der Leistungsdurchschnitt in der siebenten Klasse, eine nicht erkannte Begabung gewalttätige Zwänge, die sie hinter diese Mauern trieben, zwischen die giftigen Gase und die stampfenden Monstren. Und wenn sie es nicht wären, müßten es andere sein. Pflanzenschutzmittel, Weichspüler, Kunstdünger. Könnte man nicht wenigstens auf den Weichspüler verzichten?
    Thal bot ihr eine Zigarette an. Sogar die Nichtraucherkampagnen machten vor B. halt. Nirgends ein Hinweis, daß das Rauchen in der Kantine verboten war. Wäre auch absurd, von allen sichtbaren und rauchbaren Giften nur das bißchen Nikotin zu bekämpfen. Der Rothaarige erhob sich aus der Gruppe der Graugesichtigen, brachte seinen Teller zur Geschirrablage, spülte sein Besteck in einem Zinneimer, kam dann langsam auf ihren Tisch zu. Er griff einen leeren Stuhl, der am Nebentisch stand, setzte sich aber nicht, sondern stützte nur ein Knie auf die Sitzfläche. »Sie sind von der Zeitung, nicht?« fragte er Josefa.
    »Ja.«
    »Na, dann schreiben Sie mal über die Elektrolyse. Hier, das bißchen Staub in der Haut, das schadet nicht, das tut nicht mal weh. Aber die da kriegen so’ne Gelenke.« Der Rothaarige deutete einen Auswuchs des Handgelenkknochens von der Größe einer Tomate an.
    »Fluorose heißt das. Von dem Fluor, das da rumschwirrt. Darüber könn Sie mal schreiben. Nicht mal als Berufskrankheit wollnse das anerkennen. Mein Schwager, neunundvierzig ist er geworden, ist gestorben. Zwanzig Jahre Elektrolyse. Da gehn Se ruhig mal hin.«
    Der Rothaarige hatte nicht laut gesprochen, aber sein aggressiver Ton hatte die Gespräche an den umstehenden Tischen verstummen lassen. Die Männer und Frauen mit den staubigen Gesichtern beobachteten die Szene abwartend, manche aßen auch mit gesenkten Augen weiter, als hätten sie nichts bemerkt.
    »Setzen Sie sich doch«, sagte Josefa zu dem Rothaarigen.
    »Danke«, sagte der Rothaarige und blieb stehen.
    Thal zog den Rothaarigen leicht am Unterarm. »Mach keinen Quatsch, Herrmann, setz dich hin. Die kann doch auch nichts dafür.«
    Der Rothaarige winkte ab, setzte sich aber, wenn auch nur auf die Kante des Stuhls. Obwohl die Angriffslust des Rothaarigen Josefa etwas ängstigte, wirkte sein Auftritt auf sie doch befreiend. Die ergebene Stille, mit

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