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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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die den Frauen der KZ-Beamten gehört hätten. Aber Rudi mochte kein Fleisch mehr. Er mochte die weißen zarten Suppen aus dem »Ganymed«.
    Die Kantine war voll. Die Kantine war immer voll. Es gab fünf Kantinen im Haus, und alle waren immer voll. Die Kantinen lagen in der Mitte der Gänge, neun Tische in jeder, sechsunddreißig Stühle, ein Büfett. Die Wände zum Gang waren aus Glas. Dauerbesucher konnten von den Chefs und den arbeitsamen Redakteuren, die geschäftig die Gänge auf- und abhetzten, schon durch einen Blick aus den Augenwinkeln identifiziert werden. Auch der Charakter des Aufenthalts war während eines Vorbeimarsches an der Glasfront zu erkennen; ob notwendige Nahrungsaufnahme oder müßiges Kaffeetrinken – oder ob sogar gegen die Vorschrift in der Kantine gezecht wurde. Wer Cola trank, war verdächtig. In der Cola konnte Kognak sein. Wer Bitter-Lemon trank, war auch verdächtig. In der Bitter-Lemon konnte Wodka sein. Bockwurst war unverfänglich. Die Bockwurst schmeckte fad und ausgelaugt. Manchmal gab es Bockwurst im Naturdarm. Dann waren die Schlangen vor dem Tresen noch länger, manche aßen auch gleich zwei Würste, Frauen packten sich vier oder fünf kalte Würste für das häusliche Abendbrot ein.
    Josefa ließ zwei dicke Steinguttassen unter dem Automaten vollaufen, goß Sahne in Luises Kaffee, nahm zwei Stückchen Zucker. Der Weg zur Treppe führte durch drei schwere Türen aus Glas und Aluminium, die kaum mit einer Hand zu öffnen waren, schon gar nicht mit Ellenbogen und Fuß. Josefa wartete, bis jemand ihr die Türen öffnete. Dann ging sie langsam, um keinen Kaffee zu verschütten und um Luise noch Zeit zu lassen, eine Etage tiefer in die Illustrierte Woche. Schon von weitem hörte sie es aus Luises Zimmer schreien. Nur Luises Stimme war zu hören, scharf und hart. »Ich habe das Theater satt«, hörte Josefa. Armer Rudi, dachte sie. Sie stand im Gang, in jeder Hand eine Tasse, Ulrike Kuwiak kam vorbeigeflattert. »Haben sie dich ausgestoßen?« fragte sie und flatterte weiter in die Chefredaktion. Josefa überlegte, ob sie die linke Hälfte des Ganges entlanggehen sollte oder die rechte. Rechts lag der Großraum. »Wenn dir die Verantwortung zu viel ist, dann laß dich ablösen«, schrie Luise. Josefa lief nach links. Vielleicht war Hans Schütz da. Sie klopfte mit dem Fuß an die Tür, öffnete sie, als keine Antwort kam. Das Zimmer war leer, es roch nach kaltem Tabakrauch, auf dem Tisch lag ein Stapel englischer und französischer Zeitschriften. Es war ruhig, die Fenster lagen auf der Rückseite des Gebäudes, und die Straße, in der das Verlagshaus stand, verlief als Grenze zwischen dem neuen monumentalen Zentrum und dem alten schmuddligen Viertel, in dem Renis Kneipe lag; hier war Josefa an heißen Sommertagen mit Tadeus durch die engen, gemütlichen Straßen gezogen – und später mit anderen.
    Josefa blätterte in den Zeitschriften, trank Kaffee und genoß es, allein und unbeobachtet zu sein. Es war kaum möglich, sich in diesem Haus vor den Blicken der anderen zurückzuziehen, wenn man nicht wenigstens Abteilungsleiter war wie Luise oder Hans Schütz. Einziger Zufluchtsort für Leute, die in Ruhe heulen wollten oder die nur fünf Minuten lang allein sein wollten, war die Toilette. Aber auch dort mußte man günstige Augenblicke abwarten, denn von den fünf Kabinen waren meistens ein oder zwei besetzt. Aber selbst wenn man Glück hatte und ungestört das verheulte oder verzerrte Gesicht ordnen und von der zerlaufenen Schminke säubern konnte, hielt man es in dem grüngekachelten Raum nicht länger aus als fünf oder zehn Minuten. Dann verwandelte sich das Asyl wieder in das Scheißhaus, das es war.
    Josefa zog ihren Pullover hoch und kratzte sich den Bauch. Das Telefon klingelte, sie nahm den Hörer nicht ab. Der Streit zwischen Luise und Rudi Goldammer beunruhigte sie. Ein Schuldgefühl breitete sich in ihr aus. Sie war der Unruhestifter. Ihre Entscheidung war es, für die Rudi die Verantwortung nicht übernehmen wollte. Sie hatte sich oft gefragt, wovor Rudi Angst hatte. Als Verfolgter des Naziregimes hätte er schon vor zwei Jahren in Rente gehen können, von morgens bis abends englische Kinderbücher übersetzen, weiße Suppen kochen und Mozart hören. Vielleicht fürchtete er sich vor seiner schweigsamen Ehe. Oder vor Strutzer, der dann Chef der Illustrierten Woche werden könnte. Oder vor den Auseinandersetzungen, die seinem Rentnerdasein vorausgehen würden. Rudi

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