Flugasche
fürchtete Entscheidungen. Die Notwendigkeit, folgenschwere Entschlüsse zu fassen, versetzte ihn in Panik. Als Kapo im Konzentrationslager hatte Rudi über Leben und Tod entschieden. Durch seine Hände gingen die Listen für die Todestransporte, er war für die Zusammenstellung der Transporte verantwortlich, und er ersetzte die Namen unentbehrlicher Genossen durch die Namen von Kriminellen oder schwachen Alten, von denen man wußte, daß sie nicht überleben würden. Rudi vertauschte die Namen im Parteiauftrag. Nachts träumte er von denen, die er auf die Liste gesetzt hatte. Von manchen träumt er heute noch. Ihn verfolgt der Gedanke, die falschen Namen eingesetzt zu haben. Als hätte es richtige gegeben. Und jetzt schrie Luise ihn an, weil er vor der Wahl zwischen Strutzer und Josefa geflohen war.
Josefa wählte Luises Nummer, sie war noch immer besetzt.
Josefa erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Rudi Goldammer vor sechs Jahren. Zum Titel Diplomgermanistin fehlte ihr nur noch eine Prüfung in Mittelhochdeutsch. Sie hatte das Studium bis zum Halse satt. Die Pflichtliteratur, die Anwesenheitslisten, vor allem aber die Prüfungen, in denen sie zitternd saß mit blauen Händen, blutigen Nagelbetten an beiden Daumen. Jeder, der auf dem Stuhl ihr gegenüber saß, durfte sie fragen, was ihm gerade einfiel, um hinterher eine Zahl zwischen eins und fünf an ihre Antwort zu heften, je nach dem Gefallen oder dem Mißfallen, das sie in ihm ausgelöst hatte. Sie empfand das Studium als eine unwürdige Form geistiger Existenz, in der jeder Gedanke fremder Benotung ausgesetzt war, ehe ihm auch nur kleine Hühnerflügel gewachsen wären, mit denen er zu einem anderen Gedanken hätte fliegen können, um mit ihm eine Generation neuer Gedanken zu zeugen. Stranguliert oder scheintot wurden sie in die Leichenhallen studentischer Gehirne gebettet und warteten auf die Auferstehung. Nur Euler schloß sie aus von ihren Verwünschungen, Euler mit seinem Spezialseminar zur Gegenwartsliteratur. Nach dem Krieg war Euler Neulehrer geworden. Dann Taxifahrer. Man munkelte etwas von einem Verhältnis mit einer Schülerin. Später studierte er und blieb am Institut als Assistent. Euler hatte einen pädagogischen Charakter. Er dachte logisch, war geduldig, genoß die Denkleistungen anderer. Es schien ihn glücklich zu machen, wenn er an fremden geistigen Aktivitäten auch nur einen geringen Anteil verbuchen konnte. Euler war kein brillanter Lehrer. Brillante Lehrer leuchten durch Ironie, schöpfen geistreiche Anekdoten, die ihre Schüler noch im Greisenalter zum besten geben. Zu Euler paßte die Farbe Grau, die er auch bevorzugte. Es wurde erzählt, er hätte eine hervorragende Dissertation geschrieben, reiche sie aber nicht ein, weil sie ihm immer wieder unvollkommen und verbesserungsbedürftig erschiene. Eulers einziger Ehrgeiz schien darin zu bestehen, in jedem Jahr zwei oder drei Studenten zu entlassen, die er als seine Schüler ansehen durfte. Obwohl Euler seine Aufmerksamkeit während der Lehrveranstaltungen gerecht verteilte, bevorzugte er in jedem Studienjahr einige Studenten, denen er seine Freizeit und seine Wochenenden anbot, sobald sie ihn um Hilfe baten. Seine Auswahl erschien willkürlich, nur selten waren es die Studenten mit den besten Zensuren, die Euler behutsam und aufwendig wie Setzlinge über fünf Jahre aufzog.
Josefas Freundschaft mit Euler begann kurz vor Ende des ersten Studienjahres, als Josefa, nachdem sie die neue kulturpolitische Linie der Tageszeitung entnommen hatte, in den Aufenthaltsraum der Dozenten stürzte, um sich exmatrikulieren zu lassen. Das Zimmer war leer. Erst als Josefa die Tür wieder schließen wollte, bemerkte sie Euler, der grau und unauffällig auf dem Sofa saß und ein Kuchenpaket öffnete, in dem drei Stücke gefüllten Bienenstichs lagen. Josefa war unsicher, ob sie Euler ihren Entschluß mitteilen wollte. Er war nicht in der Partei, wurde auch zu wichtigen politischen Entscheidungen des Instituts nicht hinzugezogen. Warum sollte sie gerade Euler ihren Protest an den Kopf schmettern?
»Wen suchen Sie denn?« fragte Euler.
»Ich wollte eigentlich nur mitteilen, daß ich mich exmatrikulieren lasse«, sagte Josefa. Wenn Euler auch nicht kompetent war, konnte er doch wissen, wie sie über das Verbot von Filmen und Büchern dachte, was sie von den Schmähreden hielt, die über Schriftsteller und Regisseure ergossen worden waren.
Euler bat sie, die Tür zu schließen, bot ihr einen Stuhl an
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