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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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Aschenbecher diente, und zündete sich eine neue Zigarette an. Josefa hatte die Verlegenheit überwunden, die seine Frage in ihr verursacht hatte. »Sie können ruhig fragen«, sagte sie, »ich hatte noch keinen. Nur einer war früher Arbeiter, aber er hatte sich inzwischen qualifiziert.« Sie sah den Rothaarigen herausfordernd an. »Hatten Sie schon mal eine Akademikerin?«
    »Junge, jetzt schießt se zurück«, sagte Herrmann und schlug sich vor Vergnügen mit der flachen Hand aufs Knie. »War nicht so gemeint, wirklich nicht.« Er bot Josefa eine Zigarette an. »Hier, Friedenspfeife.«
    Thal lächelte beruhigt.
    »Nun zeigense mal her, den Wisch«, sagte der Rothaarige und griff nach dem Manuskript, das noch immer vor ihm lag.
    Die Frage des Rothaarigen beschäftigte Josefa. Gut, sie hatte auch noch nie mit einem Geologen, Bildhauer, Biologen oder Mathematiker geschlafen. Aber der Rothaarige hatte nicht gefragt, ob es ein Schlosser, Dreher oder Monteur war. Es beunruhigte sie auch weniger die Tatsache selbst. Es hätte ein Zufall sein können, daß unter den Männern, die sie näher kannte, kein Arbeiter war. Aber es war kein Zufall. Wenn sie in den Betrieben, durch die sie seit sechs Jahren fuhr, die breitschultrigen, muskulösen Männer gesehen hatte, die körperliche Sicherheit, mit der sie riesige Werkteile durch die Halle dirigierten, die von dicken Adern durchzogenen Unterarme, hatte sie sich manchmal vorgestellt, wie es wohl wäre, unter so einem Körper zu liegen, was so einer wohl zu ihr sagen würde, während er sie streichelte, wie er überhaupt wäre, zart, grob, phantasievoll oder einfallslos. Sie war nie auf die Idee gekommen, es einfach zu machen. Sie hatte Angst, eine gewohnte Verständigungsebene zu verlassen, sich einem Wertsystem auszusetzen, das ihr fremd war, patriarchalische oder kleinbürgerliche Moralsprüche anhören zu müssen, ohne zu wagen, darüber zu streiten, wie sie mit Christian darüber gestritten hätte. Vielleicht war das nichts als uneingestandener, sozial verbrämter Standesdünkel, wenn schon keine Klassenschranke.
    Hat es das überhaupt schon gegeben, eine herrschende Klasse, die nicht in den Betten herrschte?
    Josefa überschlug flüchtig die historischen Epochen von der Sklaverei bis zum Kapitalismus: Sklavinnen, Mätressen, Jungfrauen, die ihre Hochzeitsnächte in Fürstenbetten verbringen mußten, adlige Damen, die ihre ehrenwerten Titel einem dickbäuchigen Kapital zusteuerten, Dienstmädchen, die von Herrschaftsöhnen geschwängert wurden. Das Ergebnis war verblüffend eindeutig. Ein Thema für Soziologen: ›Eine Analyse der politischen und ökonomischen Machtverhältnisse anhand der sexuellen Beziehungen zwischen den Klassen.‹ Über den Ausgang der Analyse bestand für Josefa kein Zweifel. Als herrschend über die Betten würden sich Schauspieler, Schlagersänger, Ärzte und Handwerker erweisen. Diese Vereinigung von Berufsgruppen paßte aber in keine Klassendefinition, und somit wäre bewiesen, daß unter sozialistischen Bedingungen das Sexualleben nicht mehr durch die Stellung der Klassen zueinander geprägt wird, weil es auch keine Klassen mehr gibt außer der Arbeiter- und der Bauernklasse. Die Arbeiter- und die Bauernklasse aber hat verbündete Schichten, zu denen Schauspieler, Schlagersänger, Ärzte und Handwerker gehören. Ginge die Rechnung auf, hieße das, die herrschende Klasse der Arbeiter und Bauern wird im Verkehr der Geschlechter von ihren verbündeten Schichten beherrscht. Das konnte nicht stimmen. Irgendwo in Josefas Überlegung mußte ein Fehler stecken.
    Der Rothaarige schob das Manuskript über den Tisch. »Na gut«, sagte er, »das von vorhin nehm ich zurück. Und das wird gedruckt, ja?« fragte er ungläubig.
    »So Gott will«, sagte Josefa.
    »Wer ist denn Ihr Gott? Chefredakteur oder höher?«
    »Weiß Gott«, sagte Josefa, froh, den Rothaarigen umgestimmt zu haben.
    Der Rothaarige lachte. »Na denn, viel Glück. Ich muß wieder. Rabotern, rabotern.« Er klopfte zum Abschied auf den Tisch.
    Ob er nach der Schicht noch mitkäme auf ein Bier, fragte Alfred Thal.
    »Vielleicht«, sagte der Rothaarige. Als er zwei Schritte gegangen war, drehte er sich noch einmal um. »Übrigens, meine Frau ist Lehrerin«, sagte er.

Zweiter Teil
    I.
    Es häuften sich die Träume, die in Josefa aufstiegen, sobald sie einen Fluchtweg fand aus den vielen Reden, die um sie herum geführt wurden und die sie selbst führte, auch wenn sie sich später darüber

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