Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
Vom Netzwerk:
ärgerte, wieder etwas gesagt zu haben, das sie schon zehnmal gesagt hatte. Noch vor einem Jahr mußte sie die Augen schließen, um aus dem Schwarzen, das sie mit den Scheinwerfern des Unbewußten anstrahlte, Figuren auftauchen zu lassen, die sie nicht kannte und die sich hinter ihren geschlossenen Augen schamlos zur Schau stellten. Jetzt genügte ihr die Chance, die Ohren zu verschließen vor all diesem Lärm, einen Schleier vor die Augen fallen zu lassen, den niemand wahrnahm, der durchsichtig blieb für ihre Betrachter, der sie selbst aber bewahrte vor dem Anblick dessen, was außer ihr war. Dann kamen die Teufel und die Bedrängten mit ihren ernstgemeinten Fratzen und trieben ihr Wesen, und Josefa war erschrocken über das Grauenhafte, das es gab, das es geben mußte, da es in ihr war, zusammengefügt aus Tatsächlichem, das mehr Raum brauchte als ihren Kopf und das sich als ein scharfer Extrakt in ihr niedergelassen hatte, wie sie glaubte. Sie mußte nur auf eine spiegelnde Tischoberfläche oder in graue Wolken starren, bis sich der Vorhang vor ihre Augen spannte, hinter den sie ungehindert ihre Geschöpfe zitieren konnte, die wenig Worte machten und bedenkenlos preisgaben, wer sie waren. Es waren immer andere, als bedeutete es für sie den Tod, einmal Gestalt angenommen und ihre Szene gespielt zu haben. Sie ähnelten keinem von denen, die Josefa kannte. Ihre Gesichter zeigten sie nur in Ausschnitten, abwechselnd den Mund und die Nase oder nur das Kinn. Morgens wollte Josefa oft nicht erwachen, auch wenn der Schlaf sie nur noch wie ein Fetzen umhüllte, zerrissen von den Geräuschen vorbeirasender Autos und ruckelnder Straßenbahn oder von den Fingern ihres Sohnes, der vorsichtig ihre Augenlider anhob, um zu prüfen, ob sie noch schlief. Dann wollte sie den Ausgang der Geschichte kennenlernen, die ihre Wesen ihr vorspielten, oder die sie auch mit ihr spielten, bösartig und niederträchtig. Noch nie hatten sie Josefa geschont, wenn sie sie aufgenommen hatten in ihre Welt. Noch nie hatte sie bei ihnen einen Teufel spielen dürfen, auch nicht einen von den schwächeren. Sie hatten ihr die Rolle einer Bedrängten zugewiesen, und wollte sie die nicht spielen, blieb ihr nur die Möglichkeit, sich mit der Rolle eines Zuschauers zu begnügen. Aber selbst als Bedrängte wollte sie nie vorzeitig erwachen, sondern abwarten, was mit ihr geschehen würde, ob sie sich würde wehren können gegen ihre hämischen Gestalten, die sie auch dann nicht haßte, wenn sie von ihnen gequält und verhöhnt wurde. Sie mußte nur die Augen öffnen, dann war sie ihnen entkommen, konnte sie in die Kiste sperren, bis sie Sehnsucht nach ihnen verspürte und ihnen ihre Spiele gestattete.
    Sie zog sich die Bettdecke über die Schulter, denn ein kühler Luftzug zwängte sich durch den Fensterrahmen, und Josefas Bett stand unter dem Fenster. Sie öffnete flüchtig die Augen: ein hellblauer Himmel, geschmückt mit dem unregelmäßigen Muster noch kahler Zweige, die zur Linde vor ihrem Haus gehörten. Sie nahm das Bild mit hinter ihre Augenlider, wo sich der Himmel auf schwarzem Grund in einen Fluß verwandelte. Der Fluß war die Spree. Die Spree war so breit wie die Donau. Über eine riesige Treppe konnte man auf drei Brücken gelangen, von denen eine gerade, die beiden anderen in schrägen Bögen nach links und rechts über den Fluß führten. Auf der anderen Seite mündete jede Treppe in ein Haus wie in einen Tunnel. Die Häuser lagen jeweils dreihundert Meter voneinander entfernt und waren Theater. Josefa ging über die gerade Brücke, und als sie in den Zuschauerraum kam, war es schon dunkel. Ihre Freunde riefen sie leise, sie hatten ihr einen Platz freigehalten. Das Spiel hatte begonnen. Auf der Bühne standen zwei Frauen. Sie waren lila. Auch das Licht, das von oben auf sie fiel, Tapeten, Vorhänge, die seidene Decke auf dem Bett waren lila. Die Frauen waren uralt, die eine war älter. Die alte war groß und hager, die jüngere trug Zöpfe, die auf ihre schlaffen Brüste fielen. Haut, Haare, Zähne waren lila. Die Frauen bewegten sich nicht, und von ihrem Flüstern war nichts zu verstehen als ein scharfes Zischen. Die Zuschauer wurden ungeduldig. Langsam, als erwachten sie aus einer Starre, begannen die Frauen sich zu bewegen. Die jüngere band sich lila Schleifen in die Zöpfe und lächelte. Sie hatte lange Zähne. Die alte stand steif im Raum und sah die jüngere höhnisch an. Sie sagte etwas, und die jüngere weinte. Die alte lächelte,

Weitere Kostenlose Bücher