Flugrausch
muss sie jemand anderes erschossen haben, während er dort saß. Vielleicht ist er sogar als Erster erschossen worden. Ich bezweifle, dass er einfach dasitzen und zuschauen würde, wie seine Frau erschossen wird.«
Du würdest dich wundern, dachte Challis. So mancher Mann würde angesichts des Todes liebend gern jemand anderem den Vortritt lassen.
Doch Challis verlor darüber kein Wort. »Wir brauchen einen toxikologischen Befund«, sagte er, »für den Fall, dass man sie unter Drogen gesetzt hat. Aber ich wette, sie wurden erst niedergeschlagen. Mit ein wenig Glück wird der Rechtsmediziner noch was finden, es sei denn, die Schüsse haben alle Beweise vernichtet.«
Dann drehte er sich um und betrachtete die Leichen. »Was die Schrotflinte betrifft, da müssen wir wissen, ob sie ins Haus gehört oder hergeschafft worden ist.«
»Wieso hat eigentlich niemand was gehört?«, fragte Scobie nachdenklich.
Challis zuckte mit den Schultern. »Es ist das letzte Haus, die Nachbarn sind zur Arbeit, und die elektronische Vogelscheuchkanone in den Weinbergen knallt ununterbrochen.«
Dann trafen die Kriminaltechniker ein und machten sich an die ihre Aufgabe. Challis trat an die Tür zurück und schaute eine Weile zu. Sie puderten die größeren Oberflächen ab, um Fingerabdrücke zu nehmen, machten ab und zu ein Bild mit einer Polaroid CU-5 mit fester Brennweite, bevor sie Abdrücke nahmen, die möglicherweise bei der Sicherung vernichtet wurden. Challis ging nicht davon aus, dass sie Abdrücke vom Täter finden würden. Er – oder sie – hatte sicherlich Handschuhe getragen. Und er bezweifelte, dass man Abdrücke an den Leichen finden würde, selbst wenn der Täter bei den Morden keine Handschuhe getragen hatte. Fingerabdrücke auf lebender Haut halten sich nicht länger als neunzig Minuten. Abdrücke auf einer Leiche unterliegen den Witterungsbedingungen, dem Zustand der Haut und anderen Faktoren.
Sutton flüsterte ihm ins Ohr: »Und wer hat dann den Anruf getätigt? Ist der Mann vielleicht dazu gezwungen worden?«
Challis hatte sich die Aufnahme angehört, bevor sie das Revier verließen. Er versuchte sich jetzt daran zu erinnern. Hatte die Stimme verängstigt geklungen, so als sei der Mann gezwungen worden, gegen seinen Willen zu handeln? Eigentlich nicht. Aufgeregt. Künstlich aufgeregt.
»Der Killer«, antwortete er.
Challis betrachtete das Telefon, und als es nach Fingerabdrücken untersucht worden war, hob er den Hörer ab und drückte die Wiederwahltaste. Er hörte es achtmal piepsen, dann sagte eine Frauenstimme: »Waterloo Police, Constable …«
Challis legte auf. An der Wand neben dem Telefon war eine Karte festgezwickt. Die örtlichen Notrufnummern. Der Killer hatte die Nummer von der Karte abgelesen.
Jeder andere hätte in der Aufregung einfach den Notruf gewählt. Challis seufzte und ging wieder in den Hausflur. Wo blieb der Rechtsmediziner? Er hörte Scobie Sutton in der Küche rumoren. Ellen Destry kam aus einem Zimmer etwas weiter den Flur entlang.
»Ich habe mal das Büro durchsucht«, sagte sie.
»Und?«
»Der Mann heißt Mostyn Pearce, seine Frau Karen. Sie haben ein Schulkind namens Jessica – die noch in der Schule sein könnte, hier ist sie jedenfalls nicht.«
Sutton hörte das. Er gesellte sich zu ihnen und sagte: »Meine Tochter geht mit einer Jessie Pearce in die Schule.«
Ellen zeigte ihm eine Fotografie in einem Zinnrahmen. »Sind das die Eltern?«
Scobie nickte. »Himmel, wer sagt es dem Kind?«
»Im Büro steht eine Adresskartei. Vielleicht stehen die Großeltern da drin.«
Challis sah ihr über die Schulter. »Ist das ein Frettchen?«
»Ja. Im Augenblick ist es im Hinterhof angeleint.«
Challis betrachtete ein Porträt der Familie vor einer Hecke, ein Frettchen zu ihren Füßen im Gras. Er konzentrierte sich auf das Gesicht des Mannes. Keine Sonnenbrille. Der Mann, den er mit dem Frettchen in Rosebud gesehen hatte, hatte eine Sonnenbrille getragen. Aber es war wohl derselbe. Sutton sagte: »Pearce hat im Internierungslager gearbeitet. Die Leute haben sich vor ihm gegruselt. Wann immer er sein Kind in die Schule gebracht hat, hatte er das Frettchen dabei. Hat es an der Leine geführt wie einen Hund.«
Challis dachte an Tessa Kane und ihren Artikel über den Spinner und dass sie gemeinsam darüber gelacht hatten. Pearce war zwar ein komischer Kauz gewesen, aber einen solchen Tod hatte er nicht verdient.
»Was wissen wir über die Pearces?«
Die Routinefragen bei solchen
Weitere Kostenlose Bücher