Flußfahrt
Er könnte der Polizei schließlich auch einen anonymen Wink geben. Oder er könnte sie herholen. Sieh dich um, Lewis. Er kann überall hier sein.«
Lewis sah sich nicht um, aber ich tat es. Das andere Ufer des Flusses war nicht gefährlich, aber auf unserer Seite wurde es immer bedrohlicher. Etwas Unheimliches, mächtig und unsichtbar, schien aus drei Richtungen auf uns zuzuströmen – aus beiden Richtungen des Flusses und vom Wald her. Drew hatte recht: der andere Mann konnte überall sein. Die Blätter der Bäume und das Buschwerk waren so dicht, daß das Auge schnell aufgab, sich in dem nutzlosen Gewirr der Pflanzen verlor, die in dieser erstickenden Dunkelheit ihr Leben fristeten. Der hagere Körper dieses listigen, verschlagenen Burschen konnte sich zwischen ihnen so natürlich hindurchwinden wie eine Schlange, wie der Nebel, konnte uns folgen, wohin wir auch gingen, beobachten, was wir auch taten. Was wir ihm entgegensetzen konnten – diese Aussicht erschreckte mich seltsam erregend –, war Lewis. Die Kaltblütigkeit, mit der er einen Menschen getötet hatte, rief eine verzweifelte Angst in mir hervor, aber ebendiese Eigenschaft war zugleich beruhigend, und unbewußt trat ich einen Schritt näher zu ihm hin. Ich hätte diesen großen, Gelassenheit ausstrahlenden Unterarm am liebsten berührt, als Lewis jetzt mit lässig vorgeschobener Hüfte dastand, das eine Bein leicht und kraftvoll angewinkelt. Ich wäre ihm überallhin gefolgt, und mir wurde klar, daß mir auch gar nichts anderes übrigblieb.
Lewis blickte noch immer auf den Fluß und sagte: »Mal genau überlegen.«
Bobby erhob sich von dem Baumstamm und stellte sich zu uns. Zwischen uns und Lewis lag der Tote. Ich wandte den Blick von Bobbys rotem Gesicht ab. Nichts von all dem war seine Schuld, aber mir gegenüber kam er sich besudelt vor. Mir fiel ein, welchen Ausdruck seine Augen vorhin gehabt hatten, als er über dem Baumstamm gelegen hatte, wie bereit er gewesen war, alles mit sich geschehen zu lassen, und wie hoch seine Stimme bei seinem Schrei geklungen hatte. Lewis beugte sich über den toten Mann. Er hatte einen trockenen Grashalm im Mund.
»Wenn wir ihn im Kanu auf den Fluß bringen, sind wir ungeschützt. Wenn uns jemand beobachtete, würde er sehen können, wo wir ihn versenken. Außerdem, wie Drew schon gesagt hat, würde man natürlich zuerst im Fluß suchen. Welche Möglichkeiten haben wir also?«
»Wir müssen ihn entweder flußaufwärts oder flußabwärts schaffen«, sagte ich.
»Oder in den Wald«, sagte Lewis. »Oder aber wir kombinieren beides.«
»Wie denn kombinieren?«
»Ich schlage vor, wir kombinieren Fluß und Wald. Wir fahren ein Stück flußaufwärts, bis zu dem Bach, und vergraben ihn dann irgendwo im Wald.«
Das war einleuchtend. Die Wälder flußaufwärts begannen für uns unheimlicher zu werden als die Wälder flußabwärts, denn dort lag für uns die Zukunft …
»Wir schaffen ihn also flußaufwärts und dann in den Wald. Wir schleppen ihn den kleinen Bach hinauf, bis wir eine geeignete Stelle finden, und dann vergraben wir ihn und das Gewehr. Und ich möchte wetten, daß dann nichts mehr passieren kann. In diesen Wäldern hier gibt es mehr Menschenknochen, als man sich vorstellen kann. Hier oben verschwinden pausenlos Leute, und man erfährt nie etwas davon. Und in einem Monat oder sechs Wochen ist das Tal schon überflutet, und die ganze Gegend steht tief unter Wasser. Glaubt ihr etwa, daß die Regierung dieses Projekt verschiebt, nur um nach irgendeinem Hinterwäldler zu suchen? Besonders wenn man nicht mal weiß, wo er sein könnte und ob er überhaupt in den Wäldern ist? Das ist nicht anzunehmen. Und in sechs Wochen … habt ihr jemals einen Stausee gesehen? Da gibt ‘s ‘ne Menge Wasser. Und wenn was darunter vergraben ist – darunter –, dann ist es so vergraben wie nur irgendwas.«
Drew schüttelte den Kopf. »Und ich sage dir, ich will nichts damit zu tun haben.«
»Was soll das heißen?« fuhr Lewis ihn mit scharfer Stimme an. »Du hast damit zu tun. Du willst doch ehrlich sein, du willst doch eine reine Weste haben, du willst doch das Richtige tun. Aber du hast nicht den Mumm, etwas zu riskieren. Glaub mir, wenn wir es richtig machen, gehen wir so sauber nach Hause, wie wir gekommen sind. Das heißt, wenn keiner von uns quatscht.«
»Das glaubst du ja selber nicht, Lewis«, sagte Drew und blickte zornig durch seine Brillengläser. »Aber ich kann da nicht mitmachen. Es geht hier nicht um
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