Flußfahrt
durch seine unteren Rippen zu jagen. Der Schuß müßte genau sitzen. Und dann würde ich mich umdrehen und in den Wald stürzen und dort warten, damit er Zeit genug hatte zu sterben. Bis zu diesem Punkt konnte ich mir noch alles vorstellen. Irgendwie schien die Sache bereits erledigt. Es war schon geschafft, so wie es in Tagträumen immer geschieht, aber es ließ sich nur deshalb schaffen, weil die Wirklichkeit noch so weit entfernt war. Mir war genauso zumute wie bei meiner vergeblichen Hirschjagd im Nebel. Was ich hier in Gedanken vollbrachte, war durchaus beachtlich, aber es waren eben nur Gedanken, und als ich jetzt daran dachte, daß ich sie, sobald er mir mit seinem Gewehr zu Gesicht kam, in die Tat umsetzen mußte, falls ich mich von ihm nicht töten lassen wollte, war ich zutiefst erschrocken. Ich glitt tiefer hinein in die Felsspalte, um mich noch einmal von den kühlen Steinen ermutigen zu lassen, aber ich war es inzwischen überdrüssig, dort zu liegen. Es war wohl das beste, wenn ich jetzt aufstand, um die Sache in Angriff zu nehmen.
Auf mein eines Knie gestützt und beide Hände an dem Gestein über mir, schob ich mich vorsichtig hinaus. Ich richtete mich auf, leicht nach hinten gebeugt, und tastete prüfend den Vorsprung über meinem Kopf ab. Rechts von mir war nichts zu machen, aber trotzdem war ich froh, daß ich endlich wieder mit dem Klettern begonnen hatte. Links setzte sich der Felsspalt mindestens so weit fort, wie ich reichen konnte. Mir blieb also nichts anderes übrig, als mich Zentimeter um Zentimeter seitwärts daran entlangzutasten, bis nur noch meine vor Erschöpfung verkrampften Zehenspitzen auf dem Rand der Spalte standen. Aber jetzt brauchte ich mich nicht nach hinten zu beugen, sondern konnte aufrecht stehen – wirklich aufrecht –, und dann, je weiter ich nach links gelangte, konnte ich den Oberkörper sogar nach vorn beugen. Das war ebenso unerwartet wie aufregend. Danach kam der Felsen jedoch wieder dicht an mich heran. Statt mit den Zehen und Fingerspitzen fand ich jetzt mit den Knien Halt im Gestein. In der so gewonnenen Körperhaltung kroch ich nach links und dann nach rechts, und der Flußabgrund blitzte herauf. Ich kam nur langsam voran, denn meine Hände fanden keinen richtigen Halt, und die Pfeilspitzen unter dem Arm behinderten mich. Aber mein Schwerpunkt und die Neigung des Felsens waren – so fand ich jedenfalls – haarscharf aus balanciert, und das vermittelte mir ein prickelndes Gefühl. Ich war genau dort angelangt, wo sich in meinem Körper Absturz und Stehvermögen gegenseitig aufhoben, jedoch mit der leichten Tendenz, daß ich dort blieb, wo ich war, und mich nach oben schieben konnte. Immer wieder ruhte ich mich schweißgebadet aus, ohne mit den Händen oder mit den Füßen festen Halt zu haben. Die Spitzen meiner Tennisschuhe stemmten sich gebogen gegen das weiche Gestein, an dem die Gummispitze haftete, und meine Hände lagen flach auf. Dann versuchte ich wieder, mich zentimeterweise nach oben zu arbeiten. Mein Körper machte dabei die intimsten Bewegungen, wie ich sie weder bei Martha noch bei anderen Frauen je gewagt hatte. Furcht und eine ungeheuerliche, gewissermaßen mondsüchtige Sexualität halfen mir millimeterweise weiter hinauf. Trotzdem klammerten sich meine Gedanken verzweifelt an Menschliches. In der riesigen Lichtschlange des Flusses suchte ich nach einem Streifen Gold, wie ich ihn in den Augen des Fotomodells gesehen hatte: ich suchte etwas Liebenswertes. Über mir änderte sich ein Stück der Dunkelheit, und ein Stern leuchtete darin auf. Zu beiden Seiten seines hellen Scheins stiegen die Felsen an, schwarz und fest wie zuvor, aber ihre Macht war gebrochen. Der hohe, tödliche Teil des Felskamms, auf dem ich mich befand, bog sich und neigte sich immer mehr zum Leben hin und hin zu der Öffnung, in der ich den Stern sah, und während ich höherglitt, kamen mehr Sterne dazu, bis sich am Himmel ein Sternbild wie eine Krone geformt hatte. Ich kam jetzt gut auf meinen Knien vorwärts, und der Bogen scharrte neben mir über die Steine. Ich weinte. Aus welchem Grund? Es gab keinen Grund, denn ich fühlte weder Scham noch Schrecken. Ich war einfach nur da. Aber ich legte mich flach auf den Felsen, um wieder klare Sicht zu bekommen. Ich drehte mich etwas auf die Seite, stützte mich wie ein lagernder Tourist auf den Ellbogen und sah wieder hinunter. Gott, war das schön. Der Fluß funkelte und tanzte hinter dem Tränenschleier meiner Augen. Es war
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