Flusskrebse: Roman (German Edition)
kletterte an wasserüberströmten Felsbrocken hinauf und fühlte sich als der kleine Junge, der er nie gewesen war. Als Bub war er eher ängstlich gewesen, und als Stadtkind hatte er kaum je Gelegenheit gehabt, in Bächen zu waten. Kleine Jungen, die mit aufgekrempelten Hosen in Bächen wateten, hatte er damals nur aus seinen Kinderbüchern gekannt.
„Hast du welche gefunden?“ fragte ihn Vera, als er zu den anderen zurückkam.
„Ja, aber natürlich die falschen!“
„Sprecht nicht in Code!“ mahnte Hugo Reiter. „Was suchst du? Gold?“
„Gold könnte man hier sogar finden“, sagte Mautner, „aber nur mit dem Mikroskop.“
„Er sucht Flusskrebse“ klärte Vera die beiden anderen auf. „Flusskrebse sind sein Laster!“
„Aber warum die falschen?“ Magda drehte sich lässig auf den Bauch. „Sind sie in Wirklichkeit aus Fischmuskeleiweiß gepresst und mit Carotin gefärbt, wie diese Dinger da, wie heißen sie, Surimi? Ich hab die ganz gern gegegessen, bis ich einmal die Zutatenliste gelesen habe. Man soll nie die Zutatenliste lesen.“
Mautner, der die linke Hand unauffällig hinter dem Oberschenkel verborgen gehalten hatte, hockte sich hin und setzte einen kleinen Krebs auf die Decke vor Magda.
„Süß!“ sagte sie und rückte dennoch ein wenig ab. „Aber er kommt mir ganz echt vor?“
Mautner deutete mit einem Grashalm auf zwei weißblaue Flecken an den Gelenken der Scheren. „Es ist ein Signalkrebs, Pacifastacus Leniusculus. Er kommt aus Amerika.“
„Also ein Krebs mit Migrationshintergrund“, grinste Hugo. „Aber normalerweise rechnen wir Amerikaner nicht zu den Immigranten.“
„Ich verstehe gar nicht die Probleme, die die Leute mit eingeschleppten Arten haben“, sagte Magda. „Ist das nicht auch so eine Art von Rassismus? Unsere Natur soll rein bleiben!“ Sie zeigte auf einige hochstengelige rosablühende Pflanzen am Bachufer. „Wir haben eine Freundin, mit der wir auch öfter wandern, die schimpft jedesmal, wenn sie dieses Indische Springkraut sieht. Das ist doch eine schöne Pflanze.“
„Gegen das Springkraut ist nicht viel zu sagen. Aber die amerikanischen Krebse sind oft mit Krebspest infiziert und unsere heimischen Krebse sind dagegen nicht immun. Der Edelkrebs wäre schon fast ausgestorben.“
„Ist das nicht eher die Folge von Wasserverschmutzung?“ fragte Hugo.
Mautner ergriff den Krebs, der offensichtlich zum Wasser strebte, hinter den Scheren und setzte ihn zwei Meter zurück. Das Tier krabbelte sofort wieder auf das Bachufer zu.
„Die Krebspest ist eine Pilzerkrankung. Der Pilz ist so um 1860 herum nach Italien gekommen, wahrscheinlich im Ballastwasser von amerikanischen Schiffen. Zwanzig Jahre später war er schon hier in Mitteleuropa. Die Krebse sind massenhaft gestorben. Darauf hat man ausländische Krebse eingeführt und damit die Sache noch schlimmer gemacht. Wasserverschmutzung, Flussbegradigungen und Wildbachverbauung haben dann noch ein Übriges getan.“
Hugo stupste den Krebs mit dem Finger an. „Also eine kleine Rache der Indianer dafür, dass wir sie mit Grippe und Typhus ausgerottet haben.“
„Stimmt es, dass man das Bachwasser bedenkenlos trinken kann, wenn Krebse drin siedeln?“ fragte Magda.
„Wenn es Steinkrebse sind, schon. Die meisten anderen Arten vertragen erstaunlich viel Dreck. Also Dünger und Fäkalien. Aber du kannst wenigstens sicher sein, dass keine Schwermetalle im Wasser sind, das mögen sie überhaupt nicht. Vor allem brauchen sie aber einen stark gegliederten Lebensraum, seichtes Wasser, in dem die jungen Krebse vor Raubfischen geschützt sind, tiefes Wasser, wo die erwachsenen Tiere vor Füchsen und Reihern sicher sind, Steine und Wurzeln, hinter denen sie sich verstecken können, Äste, die ins Wasser hängen und so weiter.“
Vera mischte sich ein: „Wir sollten langsam aufbrechen. Wir bleiben sonst bis Mitternacht hier. Wenn er einmal von Krebsen anfängt, ist er nicht mehr zu halten.“
„Du kannst ja im Gehen weitererzählen“, sagte Magda. „Ich find’s interessant. Aber zuerst müssen wir den Krebs wieder ins Wasser bringen.“
„Der findet schon alleine nach Hause.“
„Nein, nein, wir begleiten ihn!“
Hugo und Magda fotografierten den Krebs mit ihren Mobiltelefonen, dann folgten alle vier in gemessener Prozession dem kleinen Tier, das dem Wasser zueilte und winkten ihm nach, als es zwischen den Steinen verschwand. Dann packten sie ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg.
„Also,
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