Flusskrebse: Roman (German Edition)
zu werden. Sie sagten, der Krieg im Kongo sei doch vorbei, es gebe doch eine Übergangsregierung. Ich sagte, aber im Osten geht der Krieg trotzdem weiter. Ob ich denn nicht in einen anderen Landesteil hätte gehen können? Ich sagte, auch in Kinshasa werden BanyaMulenge getötet. Sie sagten, im Osten wäre doch General Nkunda an der Macht, der die BanyaMulenge beschützt? Ich erzählte ihnen von den Plünderungen in Bukavu. Sie zweifelten alles an. Ich erzählte meine Geschichte so oft, dass sie mir selbst unwirklich vorkommt. Ich sehe mich mit den Augen der Beamten, die mich verhören, und ich denke, bin ich denn bloß zu faul, zu bequem, mich dem Leben zu stellen, wie es eben ist in meiner Heimat? Welches Recht habe ich denn, für mich ein anderes Schicksal zu fordern als es Millionen von meinen Landsleuten vergönnt ist? Was mache ich hier? Vergeude ich nicht mein Leben mit Warten auf eine bessere Zukunft, die nicht kommen wird? Aber dann stelle ich mir vor, nach Hause zurückzukehren. Welche Zukunft erwartet mich denn dort? Hier wie dort sehe ich nur eine weiße Nebelwand vor mir.“
Der Mieter räusperte sich. „Ich kann Ihre Situation verstehen. Aus verschiedenen Gründen kann ich Ihre Situation sehr gut verstehen. Von Ihrem subjektivem Standpunkt ist Ihr Wunsch, hier in diesem Land Zuflucht zu nehmen, gerechtfertigt, absolut gerechtfertigt. Aber vielleicht können Sie versuchen, für einen Moment, nur für einen Moment einen - ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll - einen allgemeineren Standpunkt einzunehmen. Sehen Sie, dieses Land ist ein kleines Land. Ein sehr wohlhabendes Land, aber auch ein sehr kleines Land. Und es gibt so viele verfolgte Menschen und so viele Menschen, die im Elend leben. Die gibt es ja nicht nur im Kongo, nicht nur in Afrika... Ich weiß, dass wir nicht genug tun. Wir könnten, nein, wir müssen noch viel mehr tun. Aber – bitte verstehen Sie mich nicht falsch – auch wenn Sie ganz Europa nehmen – und es gibt auch in Europa arme Gegenden, wo es den Menschen bei weitem nicht so gut geht wie hier – und wenn Sie dagegen Afrika nehmen, wie viele Menschen dort leben... Verstehen Sie, was ich meine?“
„Ja“, sagte der Fremde, „ich verstehe Sie sehr gut. Und ich habe mir oft gedacht: Was, wenn ich Glück habe und hier aufgenommen werde – wäre das nicht eine große Ungerechtigkeit gegenüber all meinen Landsleuten, die nicht hierher kommen können?“
„Aber, bitte, diese Überlegung richtet sich nicht gegen Sie persönlich. Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann...“
„Danke“, sagte der Fremde, „Sie haben viel für mich getan. Sie haben mir ohne Misstrauen zugehört. Das ist mir sehr viel wert.“
„Ich bin froh, dass Sie das sagen.“ Der Mieter erhob sich etwas mühsam von den kalten Stufen und schaltete das Ganglicht ein.
Auch der junge Mann stand auf: „Ich danke Ihnen für das Essen und den Wein. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Monsieur.“
Der Ältere bückte sich, um die Weinflasche, die Pizzaschachtel und die Servietten aufzusammeln.
„Lassen Sie“, sagte der junge Mann, „ich bringe das hinunter zum Müll!“
„Danke. Aber die Weinflasche nehme ich mit, weil die zum Altglas muss. Tun Sie die Schachtel bitte zum Altpapier. Ich danke Ihnen für Ihre Erzählung. Sie hat mein Wissen über diese Welt erweitert.“ Er übergab die Weinflasche von der rechten in die linke Hand, damit er dem jungen Mann die rechte hinhalten konnte: „Gute Nacht!“
Sie schüttelten sich die Hände und der Mieter stieg zu seiner Wohnung hinauf. Er sperrte auf, legte die die Weinflasche zum Altglas und ging ins Badezimmer, um sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Er unterbrach das Zähneputzen und notierte in seinem Mobiltelefon den Namen, den er auf der weißen Karte des Flüchtlings gelesen hatte: Juvénal Masunzu.
*
Der nächste Tag war ein Freitag und Mautner fuhr vom Büro direkt zu seiner Freundin. Sie waren zu einer Bergtour verabredet mit einem Paar, das Vera kürzlich kennengelernt hatte und fuhren noch am Nachmittag zu der Pension in der Steiermark, von wo sie am Samstag Morgen aufbrechen wollten. Im Auto erzählte ihm Vera von dem Ärger, den sie mit ihrem Chef hatte: „Wenn er jede Kleinigkeit selber entscheiden will, gut, dann soll er entscheiden. Aber er muss seine Entscheidungen doch rechtzeitig treffen. Er macht einen Empfang für 80 Personen und drei Tage vorher hat er noch nicht über das Catering entschieden. Vor drei Wochen habe ich
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