Flusskrebse: Roman (German Edition)
darüber, wie weit die Gleichberechtigung der Frauen schon gediehen sei. Vera hatte zu diesem Thema sehr ausgeprägte Ansichten und Mautner wurde für eine Weile an den Rand des Gesprächs gedrängt. So kamen sie bei dem Gasthaus an, in dem sie zu Abend essen und übernachten wollten. Mautner hatte es ausgesucht.
Der Wirt begrüßte sie persönlich und ein junges Mädchen in einem langen Rock aus grauem Naturleinen und weißer Schürze brachte ihnen die Speisekarte.
Mautner erzählte dem Wirt, dass er zwei Gehstunden von hier einen amerikanischen Signalkrebs gefunden hatte.
„Nacher steigst ma net in’n See eine, bevor’s di net bad’t hast!“ drohte lächelnd der Wirt.
„Der Karl hat nämlich hier eine wunderbare Edelkrebszucht angelegt.“
Der Wirt nickte bestätigend. „Wieviel mögt’s denn? Fünf Stück für an jeden als Vorspeis, und nachher a gegrillte Forelle mit Rosmarin-Erdapferl?“
„Hört sich gut an!“ stimmte Hugo zu und die anderen schlossen sich an. Ein guter Weißwein wurde dazu bestellt
„Aber ist das nicht ziemlich grausam, wie die getötet werden, die Krebse? Die werden doch lebend ins kochende Wasser geworfen?“ fragte Magda.
„Wir gehen davon aus, dass sie sofort bewusstlos sind, wenn man sie Kopf voran ins kochende Wasser steckt. Und sie haben sicher keine Zeit, Todesangst zu spüren. Jedenfalls ist das, was wir ihnen antun, weniger schlimm, als was sie einander antun. Wenn sie auf einen Artgenossen treffen, der sich gerade gehäutet hat und bei dem der Panzer noch weich ist, dann zerfleischen sie ihn gnadenlos mit ihren Scheren und fressen ihn auf.“
„Aber wie verträgt sich das mit dem Arterhaltungstrieb?“ wandte Hugo ein.
„Den gibt’s gar nicht. Jedenfalls nicht so, wie sich der Konrad Lorenz das vorgestellt hat. Das hat Richard Dawkins eindeutig widerlegt.“
„Der mit dem ‚egoistischen Gen’?“
„Ja. Die Krebse können sich bloß deshalb nicht selber ausrotten, weil die Zeit, wo sie verletzlich sind, relativ kurz ist, und sie sich da sowieso verstecken müssen. Karpfen, Aale, Rotaugen, die sind alle ganz wild auf Butterkrebse. Nach drei bis vier Tagen ist so ein Butterkrebs wieder ausgehärtet.“
„Können Krebse überhaupt Todesangst verspüren?“ fragte Hugo. „Die haben doch ein sehr primitives Nervensystem.“
„Was ist Todesangst? Wenn der Krebs merkt, dass sein Leben in Gefahr ist, spürt er sicher die stärkste negative Empfindung, zu der er eben fähig ist. Nur weiß der Krebs nicht, dass das, wovor er Angst hat, der Tod ist. Er kennt den Schmerz, aber nicht die Verzweiflung, die wir empfinden, wenn wir an den Tod denken.“
Magda zerbröselte ein Stück Brot. „Wer hat das gesagt: Der Tod geht uns nichts an, denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr da? Seneca, glaube ich?“
„Epikur“, korrigierte sie Hugo.
„Ja. Nur Philosophie und Logik nützen uns da leider wenig, weil uns die Todesangst angeboren ist. Wenn wir keine Angst vorm Tod hätten, würden wir Gefahren nicht aus dem Weg gehen. Wir wären längst ausgestorben.“
„Aber wir haben ja auch Angst vor dem natürlichen Tod.“
„Weil wir die Zahl unserer Nachkommen noch erhöhen können, auch wenn wir keine Kinder mehr bekommen. Menschen, die sich so lange wie möglich gegen das Sterben wehren, haben mehr Enkel und Urenkel. Sie können ihren Kindern bei der Aufzucht der Enkel helfen, und wenn ihre Körperkraft dazu nicht mehr ausreicht, können sie sie immer noch mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung unterstützen. Zumindest war das während der ganzen Frühgeschichte der Menschheit so. Seit der Erfindung der Schrift sind die Alten als Wissensspeicher nicht mehr ganz so gefragt.
Es gibt Lebewesen, die sich ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr gegen den Tod wehren. Das Männchen der Gottesanbeterin lässt sich willig auffressen, während es das Weibchen begattet. Insekten pflanzen sich nur einmal im Leben fort, und deswegen hätte das Männchen auch nicht mehr Nachkommen, wenn es fliehen oder sich wehren würde. Oder die Ibisfliegen. Nach der Paarung hängen sich die Weibchen zu Tausenden an einen Ast über einem Bach. Ein Weibchen beginnt mit der Eiablage, und sobald eine anfängt, machen es ihr die anderen nach. Und dann sterben sie. Alle. Dann hängt an dem Ast eine Traube von toten Fliegen und ihren Eiern. Und dann schlüpfen kleine Würmchen aus den Eiern und fressen die Mütter auf.“
Das junge Mädchen
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