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Flusskrebse: Roman (German Edition)

Flusskrebse: Roman (German Edition)

Titel: Flusskrebse: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Auer
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verstummte.
    Sie griff nach einer Petersilwurzel und schnitt sie in Scheiben, sorgfältig, mühsam. Die Scheiben schnitt sie in die Hälfte, jede einzeln, und die Hälften in Viertel. Sie schnitt die Viertel in Achtel und diese in noch kleinere Krümel. Sie starrte auf ihre Hand mit dem Messer.
    Frau Zhao nahm ihr das Brettchen fort, wischte die Krümel in den Topf mit dem kochenden Wasser und gab ihr das Brettchen zurück. Frau Saberi griff nach einer Wurzel und schnitt sie wieder in Scheibchen.
    „Wissen Sie, warum die Frauen in Afghanistan noch immer die Burqa tragen? Seit die Taliban gestürzt sind, ist es nicht mehr Pflicht, die Burqa zu tragen. Wissen Sie, warum, die Frauen sie freiwillig tragen?“
    Mautner schüttelte den Kopf.
    „Damit niemand sieht, dass sie hübsch sind. Damit niemand sieht, dass sie hübsch und jung sind. Damit sie nicht überfallen und vergewaltigt werden.“
    Wieder schnitt sie eine Wurzel in immer kleinere Stückchen, als ob sie sie in Atome zerteilen wollte. Wieder nahm ihr Frau Zhao das Brettchen weg, fegte die Krümel in den Topf mit der Suppe und gab ihr das Brettchen zurück.
    „Meine Tochter hat die Burqa nicht getragen.“
    Frau Saberi lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Sie war neunzehn. Sie hat es nicht überlebt. Man hat auch mir mit der Ermordung gedroht. Mir war es egal. Freunde haben mich in ein Flugzeug gesetzt. Ich hatte ein Ticket nach Oslo, aber ich wusste es nicht. Ich kam auf einem Flughafen an. Es muss Frankfurt gewesen sein, aber ich wusste nicht, wo ich war und ich wusste nicht, wo ich hin wollte. Ich wollte nirgendwo hin. Ich setzte mich in der Wartehalle auf eine Bank und wartete. Ich schlief, ich ging aufs Klo, ich schlief wieder, ich wartete. Ich trank Wasser auf der Toilette, aber ich aß nichts. Irgendwann sprach mich eine Frau an. Es war vielleicht eine Polizistin. Sie fragte, ob ich krank sei. Sie sagte, dass ich schon tagelang auf dieser Bank sitzen würde. Ich sagte nein, ich bin nicht krank, und ging weg. Ich stieg in einen Zug. Ich muss wohl eine Fahrkarte gekauft haben. Ich kam hier in dieser Stadt an. Ich wusste nicht, welche Stadt es war. Ich irrte herum, saß auf Bänken in Buswartehäuschen. Ich verlor meine Handtasche oder sie wurde gestohlen, ich weiß es nicht. Ich hatte kein Geld, keinen Pass mehr. Ich habe Fieber bekommen. Yin Ling hat mich von einer Bank in einem Wartehäuschen aufgelesen und mit zu sich genommen. Sie hat mir zu essen gegeben. Irgendwann bin ich aufgewacht und konnte mich wieder erinnern. Ich wollte mich umbringen. Yin Ling hat mir das Messer weggenommen. Sie hat mich nicht aus den Augen gelassen. Sie hat mich mitgenommen zu ihren Verkaufstouren und zu ihrem Sprachkurs. Die Dozentin dort hat mich zu einem Arzt gebracht. Ich bekomme Medikamente, die verhindern, dass ich verrückt werde. Jetzt wissen Sie Bescheid. Es strengt mich sehr an, Ihnen das zu erzählen. Aber da Sie uns hier Gastfreundschaft gewähren, bin ich es Ihnen schuldig.“
    „Nein, nein, ich tue ja nichts.“
    „Wohltaten und Verbrechen werden genau so oft durch Nichtstun begangen wie durch Tun.“
    Frau Zhao schabte das letzte Gemüse von den beiden Brettchen in den Kochtopf, schüttete die Nudeln und das Suppenpulver aus den Bechern dazu und schöpfte nach ein paar Minuten die mit Gemüse angereicherte Fertigsuppe wieder zurück in die Becher. Dann ging sie zur Tür und rief die beiden anderen Bewohner des Hauses: „Patlice, Juvé, kommen essen!“
     
    „Da, dieser junge Mann“, sagte Frau Professor Saberi, als Patrice mit Juvénal hereinkam, „will wissen, ob der Mensch gut oder schlecht ist. Nach allem, was ihm angetan worden ist, stellt er immer noch diese Frage, ist er immer noch nicht entschieden, hat er keine fertige Antwort parat. Ist es nicht offensichtlich, dass der Mensch schlecht ist? Dass er egoistisch ist und dumm und sich am Leid anderer erfreut? Muss man nicht verzweifeln an dieser Welt? Was sagt die Wissenschaft? Können Sie uns Hoffnung geben? Können Sie uns nachweisen, dass all diese Grausamkeiten nur Verirrungen sind, krankhafte Abweichungen von der wahren Natur des Menschen? Was ist die wahre Natur des Menschen? Wenn die Biologie es uns nicht sagen kann, welche Wissenschaft soll es können?“
    Frau Zhao verteilte die Becher und Mautner beugte sich tief über den seinen: „Sehen Sie, es gibt in der Natur überall Zusammenarbeit und überall Kampf. Es gibt Zusammenarbeit sogar zwischen Lebewesen, die zu verschiedenen

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