Flusskrebse: Roman (German Edition)
vererben.“
„Wenn man das auf den Menschen anwendet, würde das heißen, man müsste die Menschen überzeugen, dass es für jeden einzelnen besser ist, wenn alle zusammenarbeiten? Wenn sie das verstehen, dann würden sie aus Egoismus einander helfen?“
„Du vergisst das Gefangenendilemma“ sagte Patrice. „Es gibt genau so gut Situationen, wo der Vorteil für den Einzelnen Schaden für die Gruppe bedeutet.“
Juvénal schaute enttäuscht.
„Sehen wir uns weiter um“, setzte Mautner seinen Vortrag fort. „Was halten Sie zum Beispiel von einem Vogelmännchen, das kein Weibchen findet, und das jetzt den Eltern hilft, eine neue Brut aufzuziehen?“
„Das gibt es?“ fragte Juvénal.
„Ja. Nicht nur bei Vögeln, auch bei Krebsen, Fischen und auch Säugetieren. Was meinen Sie, warum tut dieses Männchen das?“
Juvénal zuckte ratlos mit den Achseln.
„Es wird schon einen Vorteil davon haben“, sagte Patrice ätzend.
„Nun, das Männchen selbst hat eigentlich keinen Vorteil davon. Aber egoistisch sind ja, laut Dawkins, die Gene. Welches Gen hat denn einen Vorteil von diesem Verhalten? Nehmen wir einmal an, dass ein einzelnes Gen für dieses Verhalten verantwortlich ist, obwohl es wahrscheinlich eine Gruppe von Genen ist, die gleichzeitig noch eine Menge anderer Dinge steuern. Stellen Sie sich einen Vogel vor, dem das folgende Programm angeboren ist: Wenn du kein Weibchen findest, hilf irgend einem Paar, seine Jungen aufzuziehen. Das wäre ein schöner altruistischer Zug, aber die Unterstützung würde Vögeln zugute kommen, die diesen schönen altruistischen Zug selber nicht haben. Der Vogel könnte seinen Altruismus nicht weitervererben. Vergleichen Sie damit das nur wenig unterschiedliche Programm: Wenn du kein Weibchen findest, hilf deinen Eltern, ihre Jungen aufzuziehen. Auch dieser Vogel hätte keine eigenen Jungen, die dieses Programm von ihm erben würden. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass unter seinen Geschwistern welche sind, die dieses Programm ebenfalls geerbt haben. Nehmen wir an, dass diese Mutation zuerst bei meinem Vater entstanden ist. Der hat sie nicht nur mir weitervererbt, sondern auch ungefähr jedem zweiten meiner Brüder (die anderen haben das Gen, das an diese Stelle der DNA gehört, von ihrer Mutter geerbt). Auch ungefähr jede zweite meiner Schwestern hat dieses Gen, und kann es an ihre Söhne weitergeben. Wenn ich also jetzt kein Weibchen finde und meinen Eltern helfe, ihre Jungen aufzuziehen, können die circa anderthalb mal soviele Junge aufziehen wie Paare, die keinen Helfer haben. Sie sehen also, dass dieses Programm gute Chancen hat, sich auf die ganze Art auszubreiten.“
„Hilfe für Verwandte steht also nicht im Widerspruch zum Egoismus der Gene?“ fragte Juvénal.
„Nicht unbedingt. Es hängt sehr stark vom Verwandtschaftsgrad ab. Meine Töchter und Söhne teilen im Schnitt 50% meiner Gene. Meine Nichten und Neffen haben im Durchschnitt nur 25% der Gene mit mir gemeinsam. Wenn ich also mit einem Gen geboren werde, das Hilfsbereitschaft für Nichten und Neffen bewirkt, dann muss diese Hilfe ihnen mindestens doppelt so viel Nutzen bringen als meine Hilfe den eigenen Kindern bringen würde, damit dieser Zug Chancen hat, sich durchzusetzen.“
„Bei uns im Dorf hat es geheißen, wenn ein Mann stirbt, soll sein jüngerer Bruder die Witwe heiraten.“ sagte Juvénal. „Denn er wird den Kindern seines Bruders wie ein Vater sein.“
„Es gibt“, sagte Mautner, „eine Tierart, bei der die Verwandtenkooperation besonders stark ausgeprägt ist und die mich immer fasziniert hat. Die Ameisen. Bei ihnen geht die Verwandtenhilfe so weit, dass sich eine Arbeiterin jederzeit für das Wohl ihrer Mutter und ihrer Geschwister aufopfern wird.“
„Aber wie ist das möglich?“ fragte Juvénal, „wie verträgt sich das mit dem Egoismus der Gene?“
„Die Ameisen sind, wie soll ich sagen, besonders verwandt miteinander. Ich werde ihnen das erklären. Es hängt damit zusammen, wie bei den Ameisen das Geschlecht bestimmt wird. Bei den Ameisen entwickeln sich unbefruchtete Eier zu Männchen. Weibchen schlüpfen aus befruchteten Eiern. Bei den Menschen gibt der Vater seinen Kindern ein zufälliges Gemisch der Gene seiner Eltern mit. Und diese Mischung kann bei jedem Kind anders sein. Und bei der Mutter ist es genau so. Darum hab ich mit meinen Geschwistern vielleicht nur ganz wenige Gene gemeinsam, vielleicht aber auch fast alle. Im Durchschnitt aber haben
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