Flusskrebse: Roman (German Edition)
Geschwister die Hälfte ihrer Gene gemeinsam. Bei den Ameisen ist das anders. Denn der Vater, der aus einem unbefruchteten Ei geschlüpft ist, gibt all seinen Kindern die gleichen Gene mit und nur von der Mutter bekommen sie ein Gemisch der Großeltern-Gene. Darum haben Ameisenschwestern im Durchschnitt drei Viertel der Gene gemeinsam. Wenn also hier ein Gen aufttaucht, das Hilfe für die Mutter bewirkt, so dass die Mutter mehr Nachkommen haben kann, dann ist die Chance groß, dass diese Nachkommen auch das – na sagen wir einmal – ‚Hilfsbereitschaftsgen’ haben.“
„Und wie zeigt sich jetzt diese Hilfsbereitschaft?“ fragte Frau Saberi.
„Nun, das größte Opfer, wenn man so sagen kann, das die Ameisenschwestern der Mutter bringen, ist, dass sie auf eigenen Nachwuchs verzichten. So können sie sich die Arbeit teilen. Die Jungen machen Innendienst, sie halten die Eier frei von Schimmel, sie füttern die Maden, sie machen die Gänge sauber und schleppen Tote hinaus. Wenn sie älter werden übernehmen sie dann den gfährlichen Außendienst und schaffen Futter heran. Aber sie können es sich auch leisten, für verschiedene Dienste unterschiedliche Körperformen zu entwickeln, die sie für andere Dienste untauglich machen. Bei manchen Arten gibt es Wächterameisen, die sind lebende Korken, die die Eingänge verstopfen. Ihr Kopf ist übergroß und vorne abgeflacht, damit er genau mit der Außenwand abschließt. Bei vielen Arten gibt es besonders große Soldatinnen. Bei der Honigtopfameise stellen sich bestimmte Arbeiterinnen als Nahrungsspeicher für den Winter zur Verfügung. Die hängen dann mit einem Hinterleib, so groß wie eine Erbse, in den Vorratskammern als lebender Honigtopf.
Ja und dann gibt es in Malaysia die Camponotus-Ameisen. Die können wirklich als Beispiel für Opferbereitschaft gelten. Ihre Soldatinnen sind lebende Granaten. Sie haben an beiden Körperseiten zwei große Drüsen, die mit giftigem Sekret gefüllt sind. Wenn sie im Kampf gegen feindliche Ameisen oder gegen einen Fressfeind in Bedrängnis geraten, dann ziehen sie ihre Hinterleibsmuskeln so gewaltsam zusammen, dass ihr Körper aufplatzt und das Gift auf die Feinde spritzt.“
„Selbstmordattentäter!“ bemerkte Patrice trocken.
„Ja. Zugunsten des Stocks das Leben zu opfern ist für die Ameisen kein großes Problem. Man nennt die Ameisenkolonie oft einen Superorganismus, weil sich die einzelnen Ameisen wie Organe eines größeren Superindividuums verhalten. Das macht ihren großen Erfolg aus. Sellen Sie sich vor: Die Hälfte aller Insekten sind Ameisen. Dabei machen von allen Insektenarten die verschiedenen Ameisenspezies nur 2% aus. Woher kommt dieser ungeheure Erfolg? Das wird klar, wenn man Wespen mit Ameisen vergleicht.“
„Warum gerade Wespen?“ wollte Juvénal wissen.
„Weil Ameisen von Wespen abstammen. Stellen Sie sich 100 einzeln lebende Wespen neben einer Kolonie von 100 Ameisen vor. Jede Wespenmutter muss ein Nest graben, ein Beutetier fangen und eintragen, ein Ei darauf legen und das Nest verschließen. Wenn sie bei einer einzigen dieser Arbeiten versagt, waren auch alle anderen Arbeiten vergebens. Die Ameisen teilen die Arbeiten auf Spezialistinnen auf. Wenn eine versagt oder gefressen wird, springt eine andere ein. Der Erfolg ist praktisch garantiert. Im Kampf können die Ameisen-Soldatinnen draufgängerisch bis zum Selbstmord sein. Eine Wespenmutter sollte sich auf einen Kampf nur einlassen, wenn sie ihn sicher gewinnen kann. Selbst wenn bis zum Ausfliegen der jungen Ameisenköniginnen von den 100 Ameisen 99 ihr Leben lassen müssen, werden die ausfliegenden Schwestern den Verlust mehr als ausgleichen, die Arbeit der 99 wird nicht verloren sein. Wenn 99 Wespenmütter ihr Leben lassen, bevor sie ihren Nachwuchs bis zum Ende versorgt haben, wird nur die Arbeit der letzten überlebenden nicht verloren sein. Mein Professor in Frankfurt hat einmal gesagt: ‚Es scheint, dass Sozialismus unter bestimmten Bedingungen wirklich funktioniert. Karl Marx hat nur die falsche Spezies gehabt.’
Mich hat das damals geärgert, weil ich als junger Mensch natürlich den Sozialismus auch für Menschen als erstrebenswert angesehen habe. Na ja. Als ich begann Ameisen zu beobachten, habe ich gedacht, sie könnten ein Vorbild für die Menschen sein, für die Zusammenarbeit unter Menschen.
Sehen Sie, die Ameisen haben vieles lange vor den Menschen erfunden: die Viehzucht zum Beispiel. Ich war begeistert, wenn ich zugesehen
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