Flusskrebse: Roman (German Edition)
heute. Wir gehen nur manchmal gemeinsam verkaufen, wegen der Gesellschaft, aber dann verdienen wir nicht genug.“
„Und hat er etwas zu Ihnen gesagt? Wer hat ihn denn so zugerichtet? Irgendwelche Skinheads?“
„Nein, ich glaube, es waren Afrikaner.“
„Hat er das gesagt?“
„Nein. Aber wissen Sie, wenn wir von Rassisten angepöbelt werden, dann erzählen wir uns das. Und weil er eben nicht sagen wolle, wer es war, bin ich sicher, dass es keine Skins waren. Die gehen uns meistens nur um Drogen an. Wissen Sie, was ich glaube: Es waren Hutu.“
„Geht denn dieser Krieg auch hier weiter?“
„Haben Sie nicht gewusst, dass man erst vor ein paar Wochen in Deutschland zwei FDLR-Führer verhaftet hat? Der eine hat jahrelang im Stuttgarter Finanzministerium gearbeitet. Er ist zweimal von der Polizei überprüft worden und sie haben ihn für unbedenklich eingestuft, stellen Sie sich das vor. Ein Massenmörder. Aber wenn wir hier Zeitungen verkaufen, werden wir nach Drogen gefilzt. Nein, ich sage Ihnen, die Hutu haben ihre Organisationen hier. Die machen hier ihre Webseiten und geben die Anweisungen. Und jetzt sind sie natürlich wütend. Vielleicht nehmen sie an, dass Ihre Führer von Tutsi verraten worden sind und jetzt gehen Sie auf alle Tutsi los, die sie treffen.“
Mautner fragte sich, ob das nicht alles ein bischen paranoid war. Aber das sagte er nicht.
Nach etwas mehr als zwei Stunden kam Patrice mit einem Verband über dem Auge in den Warteraum gehumpelt. „Es ist nichts besonderes. Sie haben Röntgen und Ultraschall gemacht. Eine Rippe ist angeknackst, aber die Organe sind in Ordnung.“
„Und haben sie die Platzwunde genäht?“ fragte Mautner besorgt.
„Ja. Nur drei Stiche. Es ist wirklich nichts Besorgniserregendes.“
„Hat man ihnen Medikamente verschrieben?“
„Sie haben mir eine Salbe mitgegeben und diese schmerzstillenden Tabletten. Man ist wirklich sehr großzügig hier!“
„Nun ja, das Krankenhaus gehört ja diesem Orden. Man macht hier doch Ernst mit der christlichen Nächstenliebe.“
„Wie erklären Sie nun also das Ideal der christlichen Nächstenliebe?“ eröffnete Patrice am Abend das Symposium. „Hier geht es doch nicht um Hilfe für Verwandte. Ist das nun Hilfe aus Eigennutz?“
„Das ist schon möglich“, sagte Juvénal nachdenklich. „Ich helfe dir vielleicht nur, weil ich hoffe, dass du mir auch einmal helfen wirst. Können Menschen nicht aus purer Berechnung anderen helfen?“
„Oder sagen wir vielleich: aus Einsicht?“ schlug Frau Saberi vor. „Aber darf ich hinzufügen, dass auch der Koran sagt: „Keiner von Euch hat den Glauben erlangt, solange ihr für euren Nachbarn nicht liebt, was ihr für euch selbst liebt.“
„Ja, ja“, sagte Patrice, „welche Religion hat nicht die Nächstenliebe im Programm? Jesus hat sie aus dem alten Testament übernommen. Buddha hat auch die Nächstenliebe gepredigt. Ich sage ja nicht, dass sie eine Lüge ist. Heute habe ich tätige Nächstenliebe erfahren. Aber wie oft kümmern sich die Menschen nicht um das, was ihr Glaube ihnen vorschreibt!“
„Die Menschen müssen eben erst zur Einsicht kommen“, sagte Juvénal. „Sie hören, was in ihren Kirchen und Tempeln gepredigt wird, aber sie verstehen es nicht.“
„Ja“, sagte Mautner, „Richard Dawkins, von dem wir letzthin gesprochen haben, scheint der Meinung zu sein, dass die Menschen jedenfalls nicht von Natur aus zu gegenseitiger Hilfe bereit sind. Ich habe mir ein Zitat notiert:
Seien Sie gewarnt, dass, wenn Sie, wie ich, wünschen eine Gesellschaft zu errichten, in der Individuen großzügig und selbstlos für das Gemeinwohl tätig sind, Sie wenig Hilfe von unserer biologischen Natur erwarten dürfen.
Menschen werden ja wirklich viel weniger von Instinkten beherrscht als andere Lebewesen. Da könnte man durchaus wie Dawkins der Ansicht sein, dass das dem Menschenwesen die Freiheit gibt, sich vom Diktat der Gene zu befreien und
trotz
der egoistischen Veranlagung zusammenzuarbeiten, etwa aus der Einsicht, dass das für alle Beteiligten Nutzen bringt. Ich habe in den letzten Tagen sehr viel über diese Frage nachgedacht, und einige Ideen, die ich vielleicht schon lange mit mir herumgetragen habe, sind in diesen Tagen – wie soll ich sagen – ein wenig gereift. Um sie erklären zu können, muss ich allerdings ein wenig ausholen:
Die natürliche Selektion begünstigt immer die Lebewesen, die möglichst viel Energie aufnehmen können und sie möglichst
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