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Flusskrebse: Roman (German Edition)

Flusskrebse: Roman (German Edition)

Titel: Flusskrebse: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Auer
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suchen. Da stößt so ein Pärchen bald an die Grenzen seiner Kraft. Es kann vielleicht maximal fünf oder sechs Junge aufziehen, aber dann ist Schluss. Es wäre die pure Kraftverschwendung, wenn es ein größeres Gebiet erobern wollte als für dieses Maximum an Jungen notwendig ist.“
    „Und das“, meinte Frau Saberi, „ist eben bei den Ameisen anders, weil sie sich die Arbeit teilen. Je größer das Territorium, das sie beherrschen, um so mehr Futter können sie beschaffen, um so mehr Arbeiterinnen und Soldatinnen können sie aufziehen, um so mehr Territorium können sie beherrschen, um so mehr Futter können sie beschaffen und so weiter.“
    „Ja“, sagte Mautner, „da haben sie recht. Das ist ein struktureller Unterschied zwischen Ameisenvölkern und Singvogelpärchen.“
    „Ein Ameisenvolk könnte sich also unbegrenzt ausbreiten?“
    „Zumindest, solange die Königin lebt und ihr Vorrat an befruchteten Eiern groß genug ist. Aber das können viele Millionen sein.“
    „Und jede Kolonie, die
nicht
auf maßloses Wachstum aus ist, müsste gegenüber einer maßlosen Mutante ins Hintertreffen geraten, nicht wahr?“
    „Allerdings.“
    „Dann sollte man Ameisen nicht als territorial bezeichnen, sondern als expansionistisch, was meinen Sie?“
    Mautner nickte bedächtig. „Ich glaube, Sie sind da auf etwas sehr Wesentliches draufgekommen. Nicht bloß auf eine andere Bezeichnung.“
    Alle waren sich einig, dass es an der Zeit war, das Symposium zu vertagen. Mautner war zwei Abende hintereinander nicht bei Vera gewesen und wollte den nächsten Abend bei ihr verbringen. Danach kam aber das Wochenende, das er seiner Gewohnheit gemäß ebenfalls mit ihr verbringen wollte. Also sollte das nächste Treffen am Montag stattfinden.
    „Warum leben Sie nicht zusammen?“ fragte Juvénal. „Und warum haben Sie keine Kinder? Mann und Frau sollten doch ...“
    Mautner hob die Schultern. „Wir haben beide einen Beruf, wissen Sie. Außerdem haben wir uns erst später im Leben kennengelernt und – na ja, da waren wir es schon so gewohnt, jeder für sich zu wohnen. Das gibt uns mehr Freiheit, wissen Sie.“
    Juvénal nickte, aber zweifelnd.
    „Bei Ihnen zu Hause sieht man das wohl anders.“
    „Ja“, sagte Juvénal zögernd.
    „Lassen Sie das!“ sagte Frau Saberi und zog Juvénal weg. „Als die Missionare Ihrer Großmutter gesagt haben, sie muss ihren Busen bedecken, wird ihr das auch nicht recht gewesen sein. Die Europäer haben eben ihre eigenen Sitten.“
    *
    Vera hatte dennoch nicht viel von Mautner in diesen drei Tagen. Am Freitag kam er erst sehr spät zu ihr. Den Vormittag verbrachte er mit Stöbern in der Bibliothek des biologischen Instituts und den Nachmittag hauptsächlich auf einer Leiter vor seinen eigenen Bücherregalen. Aus den obersten Fächern holte er Bücher hervor, die er schon seit zwanzig, dreißig Jahren nicht mehr aufgeschlagen, die er als längst erledigt da oben abgestellt hatte. Den Samstag und Sonntag verbrachte er vor Veras Laptop, im Internet stöbernd, und war nur schwer zu einem Kinobesuch am Samstag Abend zu bewegen. Alte Fragestellungen tauchten in seinem Kopf wieder auf und verbanden sich mit Berichten über neueste Erkenntnisse, über die er flüchtig in irgendwelchen Fachzeitschriften hinweggelesen hatte. Vermutungen und Ahnungen stürmten auf ihn ein und es schien ihm, als hätte er sich den größten Teil seines Lebens mit den Fragen befasst, die Juvénal und Patrice so beschäftigten, aber nur mit einem Teil seines Wesens, in einem Hinterzimmer seines Geistes gewissermaßen. Dort, in diesem Hinterzimmer, hatte sich allerhand bruchstückhaftes Material angesammelt, das jetzt nach Ergänzung schrie, aber auch schon begann, sich zu neuen Zusammenhängen zu ordnen.
    „Es ist schon eigenartig“, sagte er zu Vera, als sie nach dem Kino in einem winzigen japanischen Restaurant eine Auswahl von Vorspeisen aus Fisch und Algen verzehrten. „1980 habe ich eigentlich mit alle dem aufgehört.“
    „Warum gerade 1980?“
    „Damals hat sich die kleine Splittergruppe aufgelöst, zu der ich gehört habe und die gemeint hat, sie wird die Welt auf wissenschaftlicher Grundlage retten. Als sich unsere Organisation gespalten hat und wir uns gegenseitig als Verräter und Revisionisten und Schergen des Klassenfeinds beschimpft haben, da habe ich mir gedacht: Welche Hybris ist das, zu glauben, ob das Elend auf der Welt ausgerottet wird, hängt davon ab, ob man sagt, der Staat muss abgeschafft

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