Flusskrebse: Roman (German Edition)
werden, der immer wieder befriedigt werden muss, so wie Hunger und Durst. Und er hat gemeint, um Kriege zu vermeiden, müsste man den Aggressionstrieb auf andere Art befriedigen, durch Sportwettkämpfe zum Beispiel.“
„In Ruanda haben wir in jeder freien Minute Fußball gespielt“, sagte Patrice leise. „Es hat nichts verhindert.“
„Aber wir sind auch nicht von Natur aus gut“, sagte Juvénal mit einer hilflosen Geste. „Wir wollen etwas bewirken, gut. Aber wieso gehen die einen in die Slums, um Leprakranken zu helfen, und die anderen werden Söldner oder KZ-Aufseher? Wann setzen sich Könige Bibliotheken, Krankenhäuser und Gemäldegalerien als Denkmal, und wann eroberte Gebiete und zerbombte Städte?“
„Darüber sollten wir bis zu unserem nächsten Symposium nachdenken“, sagte Frau Saberi gähnend. „Jetzt möchte ich schlafen gehen.“
„Aber sind wir jetzt nicht wieder am Anfang angelangt?“ beharrte Juvénal.
„Ja“, sagte Patrice, „sind wir überhaupt einen Schritt weiter gekommen?“
„Ich glaube schon“, sagte Frau Saberi. „Wir wissen jetzt, dass wir die Ursachen des Kriegs nicht in der Seele des einzelnen Menschen suchen dürfen. Wenn Menschen zusammenleben, bilden sie einen Organismus, so wie die Ameisen. Und dieser Organismus, die Gesellschaft, ist eben mehr als die Summe von vielen Einzelmenschen. Da entstehen ganz neue Formen, die aus dem einzelnen Menschen nicht erklärt werden können.“
„Wie meinen Sie das?“ Juvénal riss die Augen auf.
„Es ist eigentlich sehr einfach. Jeder weiß, was ein König ist, oder? Aber ein einzelner Mensch auf einer Insel kann kein König sein. Weder König noch Untertan. Weder Lehrer noch Schüler, weder Kaufmann noch Kunde. Wo es nur einen einzigen Menschen gibt, dort gibt es keine Herrschaft, keinen Krieg, keinen Handel, keinen Unterricht, kein Gespräch, keine Freundschaft, keine Liebe und so weiter. Alles das gibt es nur in der Gesellschaft.“
So gingen sie für diesmal auseinander.
*
Vera rief an: „Reiters haben uns zu ihrer Vernissage am Donnerstag eingeladen. Zwei Künstler und eine Künstlerin aus Burkina Faso. Kommst du?“ Mautner zögerte etwas. „Hugo hat gemeint, du sollst deine afrikanischen Schützlinge mitbringen. Vielleicht interessiert sie das ja. Und es könnten sich ja irgendwelche Kontakte für sie ergeben, die ihnen weiter helfen.“
„Ja“, sagte Mautner langsam. „Sie waren nicht sehr begeistert von Reiter.“
„Hat er ihnen nicht schon einmal Arbeit verschafft?“
„Schon, aber – ich habe den Eindruck, dass er sich eine Menge Geld erspart hat.“
„Komm, alle arbeiten doch mit Pfuschern.“
„Ich kann sie ja fragen.“
„Ja, mach das. Ich möchte wirklich gern hingehen. Wir kommen sowieso viel zu selten unter Menschen!“
Mautner hatte Vera von den Symposien erzählt und sie gefragt, ob sie nicht daran teilnehmen wollte. „Ja, bei Gelegenheit“, war ihre Antwort gewesen. Es war wohl nicht ganz das, was sie als „unter Menschen kommen“ verstand.
Juvénal und Patrice waren unschlüssig. „Wie muss man da gekleidet sein?“ sorgte sich Juvénal.
„Zu einer Vernissage kommen die Leute im Anzug oder in Jeans und Turnschuhen, ganz wie jeder will. Das ist kein Problem.“
Frau Zhao hingegen, auf die Mautner die Einladung ebenso wie auf Frau Saberi ausgedehnt hatte, war Feuer und Flamme: „Ja, Kunst issa sea intaressant. Unsa Lehrerin von Deutschkurs auch uns hat eingeladen Museum zu schauen.“
„Was sagen Sie zu diesen Farben!“ schwärmte Magda Reiter, die es sich nicht nehmen ließ, die kleine Gruppe selbst durch die Austellung zu führen. „Das brennt! In den Bildern herrscht keine Ordnung. Aber das ist die Unordnung der Gesellschaft, in der der Maler lebt.“
Frau Zhao zeigte auf eine Ecke des Bildes: „Das Deckel von Biaflasche!“ Sie lachte.
„Ja. Der Maler integriert Dinge, die er auf der Straße findet, in seine Bilder. Sehen Sie: Ein Stoffetzen, ein Stück von einer Wurzel, ein Rest von einer Plastikverpackung. Man fühlt sich direkt in die Straßen von Ougadougou versetzt!“
„Stlaßen in Aflika sea schmutzig“, sagte Frau Zhao fröhlich.
Juvénal studierte die Titel der Bilder. Sie hießen „Unverständnis in der Familie“, „Teilung der Macht“ oder „Hommage an die Natur“.
„Die Künstler – sie sind hier anwesend?“ fragte er auf Deutsch.
„Nein, das war leider nicht möglich. Wir konnten keine Visa für sie bekommen.“
„Diese
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