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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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kostbar. Ich stand daneben, als es passiert ist. Augenzeuge bei einem schrecklichen Unfall. Auf so etwas stürzen sich die Zeitungen.«
    Aber das war natürlich nicht die ganze Wahrheit. Sie war viel komplizierter. Noch komplizierter, als selbst die Meute sensationslüsterner Journalisten, die eine Woche lang ihr Haus belagert und sie schließlich aus der Stadt vertrieben hatten, auch nur ahnte. Vielleicht noch komplizierter, als selbst Naubach glaubte – obwohl sie argwöhnte, dass er vielleicht als Einziger der Wahrheit einigermaßen nahe gekommen war.
    Bruder Adrianus war der Pfarrer der Gemeinde gewesen, so lange sie sich erinnern konnte; und wahrscheinlich noch viel, viel länger. Er hatte sie getauft, zur heiligen Kommunion geführt und während ihrer Schulzeit seelsorgerisch begleitet, aber sie waren niemals Freunde gewesen. Rachel hatte den Grund nie verstanden, aber zwischen ihr und Adrianus war stets eine latente, doch selbst für Außenstehende spürbare Feindseligkeit gewesen und die war nach ihrem Austritt aus der Kirche offen ausgebrochen.
    Adrianus war kein wirklich schlechter Mensch gewesen, aber er war ein sehr harter Mann, für den die Bibel das Wort Gottes und das Wort Gottes unumstößliches Gesetz und nicht diskutierbar war und der seine Gemeinde mit eiserner Hand regierte. Sie wusste längst nicht mehr, wie oft sie sich schon mit ihm gestritten hatte, niemals laut, niemals unhöflich, aber niemals war einer von ihnen bereit gewesen, auch nur einen Millimeter von seinem Standpunkt abzuweichen. Für Rachel war Bruder Adrianus ein verbiesterter alter Mann, der es vielleicht sogar gut meinte, aber seinen Kommunionschülern allen Ernstes erklärte, dass er Gott näher sei als sie, der sich weigerte, Kinder von geschiedenen und wieder verheirateten Müttern mit ihren neuen Namen anzusprechen, und der sonntags von der Kanzel feurige Predigten hielt, in denen er Unmoral und Sündhaftigkeit attackierte, die seiner Meinung nach bereits fast die gesamte Welt erobert hatten. Wahrscheinlich meinte er es sogar gut – von seinem Standpunkt aus –, aber Rachels Meinung nach hätte er mit einem schwarzen Hut und dem passenden Bart einen ganz passablen Amish abgegeben, und was er von ihr hielt, das wollte sie lieber gar nicht erst wissen.
    An jenem Tag hatte sie sich im wahrsten Sinn des Wortes in die Kirche verirrt gehabt. Es hatte geregnet – was sonst? – und sie war im Grunde nur deshalb in die Sonntagsmesse gegangen, weil der Weg sie an der Kirche vorbeiführte, ihr Regenschirm selbstverständlich zu Hause lag – das gute Stück könnte ja nass werden – und es so aussah, als ob der Himmel innerhalb der nächsten zehn Minuten vielleicht aufklaren könnte.
    »Es war die dümmste Idee meines Lebens«, sagte sie nickend, als Benedikt sie so zweifelnd anblickte, als sei die Vorstellung, dass sie freiwillig in eine Kirche gehen würde, vollkommen absurd. »Adrianus war in Höchstform. Ich weiß nicht, was vorher los war oder worüb er er gepredigt hatte, dass er so mies drauf war. Ich habe jedenfalls vorn in der ersten Reihe Platz genommen. Die Kirche war voll. Es war kein anderer Platz mehr frei.«
    »Anscheinend warst du nicht die Einzige, die das schlechte Wetter in die Arme von Mutter Kirche zurückgetrieben hat«, sagte Benedikt mit sanftem Spott. »Vielleicht stellt sich am Ende noch heraus, dass diese ganze Wetterkatastrophe in einem Geheimlabor des Vatikans erzeugt worden ist, damit die Leute wieder mehr in die Kirche gehen.«
    Rachel blieb ernst. Natürlich sagte er das nur, um sie aufzuheitern, aber ihr war nicht nach Lachen zumute. Ganz und gar nicht. Die Worte hatten die Erinnerung an etwas geweckt, das sie mühsam zu vergessen versucht hatte, und nun konnte sie nicht mehr aufhören.
    »In diese bestimmt nicht«, sagte sie ernst. »Er hat mich von Anfang an feindselig angesehen, aber natürlich hat er nichts gesagt.« Sie hob die Schultern. »Nicht, bis Tanja hereingekommen ist.«
    »Tanja?«, vergewisserte sich Benedikt überrascht. »Die Tanja?«
    »Die Tanja«, bestätigte Rachel. »Sie setzte sich neben mich. Du kennst Tanja nicht, aber sie gehört zu den Menschen, die praktisch nichts ernst nehmen, weißt du? Sie machte irgendeine dumme Bemerkung … ich weiß gar nicht mehr genau, worum es ging. Irgendetwas über den, der nicht mit Steinen werfen soll, wenn er im Glashaus sitzt. Nicht genau, aber etwas in der Art.«
    Benedikt nickte. »Ich verstehe. Und Adrianus hat es gehört.«
    »Und

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