Flut: Roman (German Edition)
ist hochgegangen wie eine Rakete«, bestätigte Rachel. »Er fing an, von der Kanzel herunter zu wettern. Er hat unsere Namen nicht genannt, er hat uns auch nicht angesehen, aber es war ganz klar, dass er uns gemeint hat.«
Benedikt griff nach ihren Händen, vielleicht nur, um sie zu beruhigen, und obwohl ihr erster Impuls der war, die Arme zurückzuziehen, ließ sie es geschehen. Sie hatte selbst nicht einmal gemerkt, dass sie mittlerweile am ganzen Körper zitterte. »Warum seid ihr nicht einfach aufgestanden und gegangen?«
»Das frage ich mich seither ungefähr tausend Mal am Tag«, sagte Rachel leise. »Ich wollte es. Ich hätte es tun müssen. Aber stattdessen habe ich irgendeine blöde Bemerkung über den Zorn Gottes gemacht. Ich habe gefragt, ob er keine Angst hätte, dass ihn eines Tages der göttliche Zorn trifft, mit dem er uns so gerne droht.«
»Und?« Benedikt begann ihre Handgelenke zu massieren. Sie wusste nicht genau, was er tat, aber es tat gut.
»Natürlich hat er es gehört. Er sollte es hören«, sagte Rachel.
»Und dann hat er erst richtig losgelegt«, vermutete Benedikt.
»Er wollte es«, bestätigte Rachel. Der Druck auf ihre Handgelenke nahm zu und tat jetzt schon ein wenig weh, aber sie entzog sich Benedikts Griff trotzdem nicht. Instinktiv spürte sie, dass das, was er tat, gut war.
»Was ist geschehen?«
»Das, womit ich ihm gedroht habe«, sagte Rachel leise. »Der Zorn Gottes hat ihn getroffen.«
Benedikt blinzelte. »Wie?« Er hörte jedoch nicht auf, ihre Handgelenke zu massieren.
»Natürlich war es nicht wirklich der Zorn Gottes«, sagte Rachel. Ach nein? Tatsächlich nicht? Aber vielleicht der einer Hexe? »Der Regen hatte zugenommen, statt nachzulassen, und der Sturm muss wohl einen Dachziegel gelöst haben. Die Kirche ist alt.« Sie hob die Schultern. »Im Polizeibericht steht jedenfalls, dass ein losgerissener Dachziegel eines der großen Fenster zertrümmert hat, und eine der Scherben hat Bruder Adrianus getroffen und ihm die Kehle durchgeschnitten. Direkt auf der Kanzel, vor der versammelten Gemeinde.«
»Großer Gott«, murmelte Benedikt. »Und du hast es mit angesehen.«
Sie hatte mehr als es mit angesehen. Sie war vielleicht die Einzige, die gesehen hatte, was wirklich passiert war. Es war nicht das Fenster gewesen. Die Scherben waren auf ihn herabgeprasselt wie Skalpelle und sie hatten ihn verletzt und regelrecht zerfleischt, aber was ihn wirklich getötet hatte, das war etwas anderes gewesen. Sie hatte damals nicht gewusst, was, und sie wusste es im Grunde auch jetzt noch nicht und hatte allenfalls eine Theorie, nicht mehr, aber in diesem entsetzlichen Moment war sie felsenfest davon überzeugt gewesen, dass es tatsächlich die strafende Faust Gottes gewesen war: etwas Kleines, Glitzerndes, tatsächlich von der Größe einer Kinderfaust, das das bunt bemalte Bleiglasfenster zertrümmert und ihn mit tödlicher Zielsicherheit getroffen hatte, ein Geschoss, das geradewegs vom Himmel gekommen war, um Bruder Adrianus für seine Selbstgerechtigkeit und seinen Hochmut zu bestrafen.
»Aber wieso haben sie sich alle so auf dich gestürzt?«, wunderte sich Benedikt.
»Jemand hat gehört, was ich gesagt habe«, sagte Rachel leise. »Ich war völlig schockiert, weißt du, ich … ich war in diesem Moment wirklich der Meinung, ich hätte die Katastrophe heraufbeschworen, und ich muss es wohl zu Tanja gesagt haben. Jemand hat es gehört.« Sie seufzte. »Das war aber auch schon alles. Ich habe einen gewissen Ruf in der Stadt, weißt du? Niemand hat es mir je direkt ins Gesicht gesagt – außer Frank vielleicht –, aber das, was passiert ist, was ich gesagt habe und was man sich hinter vorgehaltener Hand über die Hexe erzählt …«
»Ich verstehe«, sagte Benedikt. »Das hat gereicht.«
»Es war eine regelrechte Hexenjagd«, sagte Rachel düster.
»Und ich nehme an, ganz an der Spitze der Jagdpartie warst du selbst«, sagte Benedikt. Er machte eine rasche Kopfbewegung, als sie widersprechen wollte, und knetete ihre Handgelenke jetzt wirklich schmerzhaft – fast als hätte er vor, sie ihr endgültig zu brechen. Rachel versuchte sich loszumachen, aber es gelang ihr nicht.
»Mach mir nichts vor«, sagte Benedikt – obwohl sie gar nicht laut widersprochen hatte. »Du hast dir die ganze Zeit über Vorwürfe gemacht. Du hast geglaubt, es sei wirklich deine Schuld, habe ich Recht?«
»Quatsch«, sagte Rachel müde. Sie versuchte erneut sich loszureißen, aber er hielt
Weitere Kostenlose Bücher