Flut: Roman (German Edition)
neunzehn, Verse dreiundzwanzig bis fünfundzwanzig«, antwortete sie ganz automatisch. Erst danach wurde ihr klar, was sie gerade getan hatte, und sie kam sich albern vor; so, als wäre sie in ihre Kindheit zurückversetzt worden, befände sich wieder im Kommunionsunterricht und müsste ihrem Lehrer beweisen, dass die letzten Monate nicht umsonst gewesen waren. Aber da war noch etwas. Erst nachdem sie diesen Gedanken gedacht hatte, wurde ihr klar, worüber Benedikt gerade gesprochen hatte, und dieses Begreifen löste eine so hysterische Heiterkeit in ihr aus, dass sie um ein Haar laut aufgelacht hätte. Allerdings war ihr auch selbst klar, dass sich unter dieser Heiterkeit nichts anderes als pures Entsetzen verbarg. »Das ist jetzt ein Scherz«, sagte sie. »Du bist ein paar tausend Jahre zu spät dran, weißt du?«
Benedikt blickte sie fünf Sekunden lang – eine Ewigkeit! – so ernst und durchdringend an, dass ihr erneut ein eisiger Schauer über den Rücken lief, dann hob er den Arm und sah auf die Uhr. Er schien einen Moment lang angestrengt zu überlegen, dann sagte er: »Noch vier Stunden. Ungefähr. Falls wir dann noch leben, wirst du begreifen.«
»Was ist in vier Stunden?«, fragte Rachel.
Als er nicht antwortete, packte sie ihn bei den Schultern und schüttelte ihn zweimal kurz: »Was ist in vier Stunden?« Diesmal schrie sie – allerdings größtenteils vor Schmerz, als sich ein rot glühender Draht direkt durch ihre Handgelenke zu bohren schien und sie nachhaltig an die Verstauchung erinnerte, die sie sich am Morgen zugezogen hatte.
Benedikt machte sich mit sanfter Gewalt los, sah sie sehr sonderbar an und fragte dann: »Hast du es schon einmal mit Beten versucht?«
Rachel biss die Zähne zusammen und massierte abwechselnd ihr rechtes Handgelenk mit der Linken und umgekehrt. Der Schmerz verebbte nur ganz allmählich. »Was?«, fragte sie übellaunig.
Benedikt machte eine entsprechende Kopfbewegung. »Deine Verletzung. Sie tut ziemlich weh, nicht?«
»Nur wenn ich lache«, knurrte Rachel.
»Dann solltest du stattdessen vielleicht beten«, schlug er vor. So lächerlich ihr die Worte auch erschienen, sie spürte, dass er sie in diesem Moment vollkommen ernst meinte. »Versuch es einfach.«
»Unsinn!« widersprach Rachel. »Du willst nur ablenken, damit du meine Frage nicht beantworten musst. Was geschieht in vier Stunden?«
»Wann hast du das letzte Mal gebetet?«, fragte Benedikt stur. Rachels Gesicht verdüsterte sich. »Darüber möchte ich nicht reden«, sagte sie.
Benedikt nickte. »Ich verstehe«, sagte er – was Rachel allerdings bezweifelte. »Es hat etwas mit dieser Sache zu tun, derentwegen du die Stadt verlassen hast. Bruder Antonius.«
»Adrianus«, verbesserte ihn Rachel widerwillig.
»Erzähl mir davon«, bat Benedikt.
»Das möchte ich nicht«, erwiderte sie. Verdammt, er hatte Erfolg. Er dachte nicht daran, ihre Frage zu beantworten, sondern stellte ganz gezielt eine Frage, die es ihr unmöglich machte, sich weiter auf das Thema zu konzentrieren, das ihm offensichtlich so unangenehm war.
»Warum nicht?«, fragte Benedikt. »Manchmal erleichtert es zu reden, weißt du.«
»Sicher«, sagte Rachel spöttisch. »So sehr, dass ich die Stadt verlassen habe. Ich hätte nie wiederkommen sollen.« Sie schüttelte den Kopf, aber die Bewegung wirkte nicht annähernd so wütend, wie sie beabsichtigt hatte. Sie hatte innerlich bereits resigniert und war nur noch nicht bereit, es zuzugeben.
»Es waren diese verdammten Journalisten«, sagte sie. »Adrianus ist praktisch vor meinen Augen umgekommen. Ich war … ich stand neben ihm, weißt du, nicht viel weiter entfernt als du jetzt von mir.«
»Ich weiß«, sagte er.
»Du weißt?«
»Ich lese Zeitung«, antwortete Benedikt mit sanftem Spott.
»Warum fragst du dann?«
»Weil ich weiß, was passiert ist, aber nicht, wie es passiert ist«, antwortete Benedikt, was sich eigentlich komisch anhören sollte, es aber irgendwie nicht tat. »Er wurde von einem Kirchenfenster erschlagen, nicht wahr?«
Rachel machte eine Bewegung, die gerade vage genug zwischen einem Nicken und einem Schulterzucken angesiedelt war, um seiner Fantasie freien Spielraum zu lassen.
»Das war wenigstens das, was in den Zeitungen stand.«
»Und das war dann auch schon fast die ganze Geschichte«, sagte sie.
»Und deswegen warst du eine Woche lang in den Zeitungen?«
Nein, nicht deswegen, dachte Rachel. Aber sie nickte. »Was erwartest du? Sensationen sind
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