Flut: Roman (German Edition)
seinen wahren Zustand zu verhehlen, aber es gelang ihm nicht einmal annähernd. Er war noch immer so blass wie vorhin, als er den Sender aus seinem Arm entfernt hatte, und er hielt den linken Arm in einer unnatürlichen Haltung, um ihn zu entlasten.
Es waren nur Kleinigkeiten, winzige Details, die Rachel unter normalen Umständen vermutlich übersehen hätte, die aber jetzt hinter ihrer Stirn eine ganze Batterie von Alarmsirenen losheulen ließen. Bisher war ihr Benedikt unbesiegbar erschienen, ein Quell schier unerschöpflicher Kraft und Energie, den nichts erschüttern konnte, aber jetzt war sie beinahe die Stärkere; und das nicht nur in körperlicher Hinsicht. Benedikt hatte nach wie vor die Führung inne und er wirkte weder unentschlossen noch zögerlich – aber er wirkte auch nicht mehr ganz so entschlossen und sicher wie sonst. Es war, als hätte er mehr getan, als nur einen Fremdkörper aus seinem Arm zu entfernen. Als sie die Straße erreichten, blieb er stehen und sah sich unschlüssig in beide Richtungen um. Die Straße war in schlechtem Zustand und so schmal, dass sie vermutlich nur auf wirklich guten Landkarten zu finden war, und sie glich im Moment eher einem seichten Fluss. In südlicher Richtung verlief sie schnurgerade, bevor sie irgendwann hinter grauen Regenschleiern verschwand; im Norden tauchte sie zwischen bewaldeten Hügeln unter. Manchmal, wenn die tanzenden Regenschleier es zuließen, glaubte sie ein helles Schimmern zu erkennen. Möglicherweise ein Haus, vielleicht auch gar nichts.
Benedikt zögerte gerade lange genug, um ihre Besorgnis noch zu nähren, und deutete dann nach rechts; vollkommen willkürlich, wie es Rachel schien. »Dorthin.«
»Das ist Süden«, sagte Rachel.
Benedikt warf einen Blick in den Himmel, als müsse er sich von der Richtigkeit ihrer Behauptung überzeugen, ehe er antwortete. »Ich weiß.«
»Das ist aber die entgegengesetzte Richtung«, sagte Rachel vorsichtig. »Wir müssen nach Norden.«
Benedikt wirkte verunsichert. »Genau da werden sie uns vermuten.«
»Dann hätten wir vielleicht gleich nach Tel Aviv fliegen sollen«, sagte Rachel spöttisch. »Dort vermuten sie uns wahrscheinlich zuallerletzt.«
Benedikt verstand den Spott in ihren Worten nicht einmal. Seine Augen hatten viel von ihrem Glanz verloren und blickten ein wenig unstet. Großer Gott, was sollte sie tun, wenn er tatsächlich seine Kraft verloren hatte? Ganz plötzlich wurde ihr bewusst, wie sehr sie auf ihn angewiesen war. Ohne Benedikts Kraft würde sie es nicht einmal bis zu Uschis Berghütte schaffen. Und sie sollte die Welt retten? Lächerlich!
»Ich glaube, da hinten steht ein Haus«, fuhr Benedikt fort. Es klang lahm. »Vielleicht haben sie Telefon. Oder einen Wagen.«
»Den wir stehlen können?«
Die Worte taten ihr selbst schon wieder Leid, noch bevor sie sie ganz ausgesprochen hatte; und sei es nur, weil es verschwendeter Atem war. Benedikt blickte sie verständnislos an, machte eine Bewegung, die man vielleicht als ein Achselzucken interpretieren konnte und drehte sich dann herum, um mit hängenden Schultern in südlicher Richtung loszumarschieren. Bevor er losging, warf er jedoch erneut einen raschen, misstrauischen Blick in den Himmel hinauf und er bewegte sich auch so, dass ihm die überhängenden Äste hier am Waldrand Deckung gegeben hätten, wäre da wirklich ein Beobachter am Himmel gewesen.
Schon beinahe absurd war, dass sie es ihm gleichzutun begann – obwohl ganz sicher nicht die Gefahr bestand, dass sie von oben gesehen wurden. Die Wolkendecke war zwar auch jetzt nicht vollkommen lichtundurchlässig, aber geschlossen und schien an manchen Stellen tatsächlich fast den Wald zu berühren. Zwar wusste Rachel, dass es auch Methoden gab, bei derart schlechten Sichtverhältnissen Beobachtungen durchzuführen, aber nicht einmal der wagemutigste Pilot wäre verrückt genug, bei diesem Wetter zu starten.
Erneut und diesmal noch viel schmerzhafter wurde ihr klar, wie sehr sie auf Benedikts Führung und Kraft angewiesen war, und wieder fragte sie sich, was für die erschreckende Veränderung verantwortlich sein mochte, die während der letzten halben Stunde mit ihm vorgegangen war. Es war keine Einbildung. Er hatte sich verändert und sie war sehr sicher, dass dieser schleichende Zusammenbruch nichts mit seiner Verletzung zu tun hatte oder mit den Schmerzen, die er deswegen litt. Es war, als begänne er auf einer unsichtbaren Ebene vor ihren Augen zu verfallen und verlöre
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