Flut: Roman (German Edition)
und Wärme verkehrte den Anblick genau ins Gegenteil. In dem warmen Schein lag eine Hoffnung, die sie für einen Moment mit neuer Zuversicht und Kraft erfüllte, gegen jede Logik und gegen alles, was ihr Verstand ihr sagte und was sie selbst erlebt hatte.
Vielleicht war es einfach die simple Symbolik dieses Bildes. Der Hof schien sich unter dem Toben der entfesselten Naturgewalten zu ducken wie ein verängstigtes Tier, das vergeblich nach einem Versteck gesucht hatte und sich nun vor Entsetzen und Angst krümmte, und dennoch war noch Leben in ihm, ein kleines, gelbes Herz, das trotzig weiterleuchtete und selbst vor dem Wüten eines tobenden Gottes nicht kapitulierte.
»Also gut«, sagte Benedikt. »Warte hier auf mich. Ich bin in ein paar Minuten zurück.«
»Was hast du vor?«, fragte Rachel. Die Frage war ziemlich überflüssig – vor allem, weil Rachel die Antwort kannte und sie ihr nicht gefiel. Sie wartete auch nur einige Sekunden vergeblich auf eine Antwort, dann hob sie die Schultern und trat zwei Schritte zurück in den Schutz des Waldes, der hier wie überall auf dieser Straßenseite nahe genug an die Straße heranreichte, um etwas wie ein natürliches Vordach zu bilden, unter dem sie nicht nur vor dem Regen, sondern auch vor dem Starren der unsichtbaren Augen in den Wolken sicher war.
Benedikt blieb noch einige Augenblicke reglos stehen und setzte sich dann in Bewegung; ganz ungewöhnlich für ihn, ohne noch einmal zu ihr zurückgeblickt und sich überzeugt zu haben, dass sie in Sicherheit war. Auch wenn sie die schleichende Veränderung, die mit ihm vorging, immer noch spürte, so bewegte er sich doch mit der gewohnten Schnelligkeit und Eleganz; er mochte dabei sein, seine Kraft zu verlieren, aber er hatte nichts verlernt. Schon nach den ersten Schritten war er im strömenden Regen verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
Obwohl ihr schon der bloße Gedanke einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ, wich sie um etliche weitere Schritte in den Wald zurück. Sie musste aufpassen, wohin sie ihre Füße setzte; der Boden war nicht nur in der Nähe der Straße zu etwas wie einem halb verflüssigten Schwamm geworden, unter dessen trügerisch glatter Oberfläche sich ein ganzes Labyrinth von Stolperdrähten, Schlingen und anderen Fallen verbarg, sondern hatte auch hier drinnen mittlerweile mehr Ähnlichkeit mit den Everglades in Florida als mit einem Wald am Rande der Apenninen. Hätte die geschlossene graue Wolkendecke am Himmel den Tag nicht genau in dem flüchtigen Moment erstarren lassen, in dem das Licht sowohl am weitesten von der Nacht als auch am weitesten vom Tag entfernt war und man im Grunde weniger sah als bei wirklicher Dunkelheit, dann hätte es hier drinnen unnatürlich hell sein müssen: Das normalerweise geschlossene Blätterdach über ihrem Kopf war längst nicht mehr dicht; wochenlanger Dauerregen, der sich mit Sturm, Hagel, Gewitter und wieder neuem Regen abgewechselt hatte, hatte seinen Tribut gefordert. Die Baumwipfel hatten mindestens die Hälfte ihrer Blätter eingebüßt und der Waldboden war im wahrsten Sinn des Wortes ausgewaschen, Büsche und Unterholz zu surrealen Gebilden aus dürren Linien und knotig ineinander verschlungenem Geäst geworden und Moos und Kriechgewächse waren längst ertrunken. Der braune, monochrom gefärbte Morast breitete sich wie ein glatter Spiegel vor ihr aus, der allerdings keine Spiegelbilder, sondern nur unheimliche Schatten zurückwarf.
Und mit dem pflanzlichen war auch jegliches tierische Leben verschwunden. Abgesehen von dem Geräusch, mit dem der Wind in den nassen Blättern hoch über ihr spielte und das sich ebenfalls auf unheimliche Weise tot anhörte, war es vollkommen still. Sie sah keine Spinnweben, hörte keine Käfer durch das Laub huschen, keinen Vogel irgendwo in der Ferne sein klagendes Lied anstimmen. Das düstere Licht hatte nahezu alle Farben ausgelöscht und selbst die Kälte war keine richtige Kälte mehr, wie sie sie kannte, sondern etwas, das tiefer ging und viel unheimlicher war. So musste es nach dem Ende der Welt sein, dachte Rachel schaudernd. Nicht nach dem Untergang des Planeten, wie man ihn in manchen Sciencefictionfilmen sah, nachdem die Erde von einem gigantischen Meteoriten getroffen oder vom atomaren Feuersturm sterilisiert worden war, aber nach dem Ende der Welt, wie sie sie kannten: wenn es keine Menschen, kein Leben mehr hier gab. Und vielleicht war dies die schrecklichste Vision, die ein Mensch haben
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