Flut: Roman (German Edition)
mit jedem Schritt ein wenig mehr von seiner Kraft und Unbeugsamkeit. Ein paar Sekunden lang überlegte sie sogar allen Ernstes, ob das Messer, mit dem er sich geschnitten hatte, vielleicht vergiftet gewesen war, begriff aber im nächsten Moment auch selbst, wie albern dieser Gedanke war. Wer immer ihm diese Waffe gegeben hatte, hatte schließlich nicht wissen können, wozu er sie benutzen würde.
All das hinderte Benedikt nicht daran, so schnell auf das weiße Schemen zuzugehen, das ihnen durch die Regenschauer zublinzelte, dass sie ihre Schritte deutlich beschleunigen musste, um nicht zurückzufallen.
Sie stolperte, fand mit einem raschen Schritt ihr Gleichgewicht wieder und musste sich an einem Baumstamm festhalten, um nicht sofort wieder auszurutschen und endgültig zu fallen. Ärgerlich sah sie an sich herab. Sie bewegten sich zwei Schritte neben der Straße und im ersten Moment glaubte sie, über eine hochstehende Wurzel gestolpert zu sein. Dann erkannte sie ihren Irrtum: Es war eine Wurzel, die sich aber normalerweise mindestens eine Handbreit unter der Erde befinden musste. Der Regen hatte den Boden wenigstens zwanzig Zentimeter tief aufgeweicht. Sie ging nicht über federnden Waldboden, sondern stampfte durch schienbeintiefen glitschigen Morast und sie hatte es nicht einmal gemerkt.
Um nicht wieder zu fallen, ging sie zwei Schritte nach links und marschierte in dem zwei Zentimeter tiefen Fluss weiter, der vor ein paar Tagen noch eine Straße gewesen war. Sie kam auf diese Weise weitaus besser voran, aber sie hatte kein gutes Gefühl. Über ihr waren jetzt keine Äste mehr, dafür aber die brodelnde Wolkendecke, in und über der es manchmal mattweiß aufloderte. Trotzdem fühlte sie sich unwohl, auf eine Weise ausgeliefert und schutzlos, die sie um ein Haar dazu gebracht hätte, die Straße wieder zu verlassen und unter dem Schutz der Bäume weiterzugehen.
Vermutlich hätte sie es sogar getan, wäre ihr nicht klar gewesen, dass sie sich damit genau so närrisch benommen hätte wie Benedikt. Er stolperte mehr, als er ging, und es erschien Rachel fast wie ein Wunder, dass er nicht längst ausgerutscht und auf die Nase gefallen war. Dennoch kam er erstaunlich schnell voran. Rachel musste sich sputen, um nicht noch weiter zurückzufallen. Und mit jedem Schritt, den sie unter dem brodelnden braungrauen Himmel entlangmarschierte, fühlte sie sich hilfloser und angestarrter, als ob sich unzählige unsichtbare Augen in der kochenden Wolkendecke verbargen, die sie belauerten und nicht nur jeden ihrer Schritte und jeden ihrer Atemzüge verfolgten, sondern direkt in ihre Gedanken blickten und ihre intimsten Geheimnisse erkannten. Sie fühlte sich nackt, auf eine obszöne, erniedrigende Art.
Rachel versuchte den Gedanken abzuschütteln. Sie begann schon genau so paranoid zu werden wie Benedikt und das war nicht gut. Wenigstens einer von ihnen sollte sich einen Rest von klarem Verstand bewahren.
Sie versuchte noch einmal schneller zu gehen, um zu Benedikt aufzuschließen, und diesmal gelang es ihr sogar. Aber sie brauchte lange dazu. Als sie Benedikt endlich eingeholt hatte, war aus dem weißen Gespenst ein von Menschenhand erschaffenes Gebäude geworden. Zu Rachels Enttäuschung handelte es sich jedoch nicht um einen Teil eines Dorfes oder den Beginn einer Straße, sondern um einen einzeln dastehenden winzigen Bauernhof, der im hellen Sonnenschein und auf einer Hochglanzpostkarte vielleicht einen pittoresken Eindruck gemacht hätte, inmitten des strömenden Regens und in dem grauen Licht aber einfach nur schäbig aussah. Eigentlich war es nicht einmal ein richtiger Hof, sondern nur ein mittelgroßes, eingeschossiges Gebäude mit weiß getünchten Wänden, an das sich ein windschiefer Schuppen und eine nach zwei Seiten hin offene Remise anlehnten. Der Hof war nicht gepflastert und der Boden hatte sich auch hier in einen dünnflüssigen Brei verwandelt, so dass es aussah, als wäre das gesamte Gehöft dabei, allmählich im Sumpf zu versinken. In der Remise stand ein Traktor, der älter sein musste als sie und Benedikt zusammen, und sie glaubte sogar ein paar Hühner zu sehen, die im Schlamm nach Nahrung pickten und zugleich versuchten nicht darin zu versinken. Es hätte ein durch und durch trostloser Anblick sein können, aber hinter den Fenstern des Hauses brannte Licht – nicht der unangenehme weiße Schein einer Neonlampe, sondern das langsame, warme Flackern von Kerzen – und diese kleine Insel aus Helligkeit
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