Flut: Roman (German Edition)
Bäumen oder wenigstens einem Platz, an dem es nicht mehr wie aus Kübeln auf sie herabschüttete.
Obwohl sie einen nicht geringen Teil ihrer Konzentration darauf verwandte, zu lauschen und auf jede Veränderung ihrer Umgebung zu achten, tauchte Benedikt so plötzlich und scheinbar wie aus dem Nichts vor ihr auf, dass sie erschrocken zusammenfuhr und um ein Haar einen Schrei ausgestoßen hätte. Ganz instinktiv wich sie einen halben Schritt zurück und prallte dabei unsanft mit Schultern und Hinterkopf gegen einen Baum.
»Großer Gott, hast du mich erschreckt!«, entfuhr es ihr.
»Offenbar nicht genug«, erwiderte Benedikt ernst. »Ich hätte auch jemand anderer sein können. Aber dann wärst du jetzt wahrscheinlich schon tot.«
Rachel war im ersten Moment viel zu verwirrt, um mehr als die scheinbar völlig grundlose Feinseligkeit in seiner Stimme zu registrieren und sich darüber zu wundern. Ihre Antwort war zwar scharf, aber es war im Grunde nur Trotz, ein bloßer Reflex auf den Ton, den er angeschlagen hatte. »Du bist es aber nicht, oder?«, funkelte sie ihn an.
»Zum Glück, ja«, erwiderte Benedikt. »Alles in Ordnung?«
Seine Besorgnis kam ein wenig spät, fand Rachel. Für ihren Geschmack gerade spät genug, um sie nicht nur nicht echt, sondern schon beinahe nach Spott klingen zu lassen. Sie antwortete mit einem angedeuteten Nicken und machte eine fragende Geste in die Richtung, aus der er gekommen war – oder um genauer zu sein, von der sie annahm, dass sie es war.
Benedikt beantwortete ihre Frage, bevor sie sie laut aussprechen konnte. »Keine Chance«, sagte er. »Die beiden sind nicht allein.«
»Und was genau soll das heißen?«
»Dass ich sie töten müsste, um an ihnen vorbeizukommen«, erwiderte Benedikt ruhig. »Willst du das?«
Rachel sah ihn schockiert an. Natürlich wollte sie es nicht. Dass er die Frage überhaupt stellte, empörte sie ein wenig. »Nein.«
»Dann müssen wir einen anderen Weg finden«, sagte Benedikt.
»Einen anderen Weg?« Allein bei der Vorstellung hätte Rachel beinahe laut aufgelacht. Es gab einen anderen, unter normalen Umständen sogar kürzeren Weg zur Hütte hinauf, aber die Umstände waren nun einmal nicht normal und im Moment war der Weg am Bach entlang der schiere Selbstmord – sofern er überhaupt noch existierte.
»Es gibt doch einen anderen Weg?«, fragte Benedikt.
Rachel sah ihn nur weiter unentschlossen an, aber das allein war für Benedikt natürlich Antwort genug.
»Dann zeig ihn mir.«
Rachel sagte immer noch nichts. Endlose Sekunden lang sah sie ihn wortlos an, dann deutete sie stumm in die etwas blassere Dämmerung im Wald hinter sich hinein und machte gleichzeitig eine auffordernde Kopfbewegung. Benedikt wirkte enttäuscht, hob aber nur die Schultern und ging an ihr vorbei; ein wenig langsamer als zuvor und nicht mehr so zielstrebig, wie es schien, aber ohne eine weitere Frage zu stellen. Er wusste nicht, wohin sie gingen.
Rachels subjektives Zeitempfinden bewegte sich nach wie vor in einem willkürlichen Zickzack zwischen Super-Slow-Motion und High-Speed-Fotografie, aber sie war den Weg oft genug gegangen, um zu wissen, dass sie nochmals gute zehn Minuten brauchen würden, bevor sie die Abzweigung erreichten. Sie hoffte, dass sie sie überhaupt wieder finden würde. Vorhin war sie daran vorbeimarschiert, ohne dass sie ihr aufgefallen wäre, aber da hatte sie natürlich auch nicht danach gesucht. Sie war nicht einmal jetzt sicher, ob die Abkürzung zu der einsamen Berghütte, die sie kannte, überhaupt noch eine war. Aber wenn sie nicht mehr existierte, dann war sowieso alles vorüber.
Benedikt marschierte die ganze Zeit wortlos vor ihr her, schnell, aber nicht annähernd so schnell, wie er es gekonnt hätte. Er bewegte sich auf eine gleichmäßige, kräftesparende Art und sah kein einziges Mal zu ihr zurück, aber sein Blick tastete immer wieder verstohlen und aufmerksam zugleich über den Waldrand rechts und links des blank gespülten Weges, ein- oder zweimal auch nach oben zu der grau marmorierten Decke, die sich weit genug auf den Wald herabgesenkt hatte, um die nahezu blattlosen Wipfel beinahe zu berühren.
Einen kurzen Augenblick lang fragte sich Rachel, ob er das Starren unsichtbarer Drachenaugen dort oben auch spürte, beantwortete ihre eigene Frage aber auch fast sofort mit einem eindeutigen Nein. Er konnte nicht spüren, was nicht da war. Paranoia war zwar bis zu einem gewissen Grad ansteckend, aber es war nicht besonders
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